Wer mal ein etwas anderes Leseerlebnis haben möchte, der ist bei dem Gedichtband ich föhne mir meine wimpern von Sirka Elspaß genau richtig. Denn normalerweise klären sich die eigenen Fragen im Leseprozess – hier vermehren sie sich nur. Die Frage, was es mit den einzigartigen Gedichten von Elspaß auf sich hat, kann vielleicht nur die Lyrikerin selbst beantworten, doch vielleicht weckt euch die Neugier, der Sache mal selber auf den Grund zu gehen.
von JULIA LEWEN
Der Gedichtband ich föhne mir meine wimpern von Sirka Elspaß stellt das Debüt der jungen Lyrikerin dar. Und was für eins! Mit ihren einzigartigen Gedichten gelingt es ihr, auf die Shortlist des österreichischen Buchpreises 2022 in der Kategorie Debütpreis zu landen. Doch was genau macht ihre Gedichte so einzigartig? Es ist der Ton zwischen Pop und Poesie und die Art und Weise, alles und nichts zu sagen und gleichzeitig so vieles zu meinen. Sirka Elspaß schreibt am Zahn der Zeit. Und das ist auch nicht wirklich verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Lyrikerin im Jahr 1995 geboren wurde. Ernste Gedanken werden mit moderner Ausdrucksweise, Umgangssprache und Anglizismen verbunden.
Doch fangen wir zunächst chronologisch an: So wie das Leben selbst, so beginnt auch Elspaß’ Buch mit der Geburt. Es stellen sich beim Lesen zunächst alle möglichen Fragen wie „Wo ist der Zusammenhang?“ oder „Was ist damit gemeint?“. Man wird in den Strom der Gedankenwelt der Lyrikerin gnadenlos hineingeworfen und muss selber zusehen, ob man darin schwimmt oder ertrinkt. Und ich muss zugeben, dass es mir anfangs nicht leichtgefallen ist, zu schwimmen.
Von Handgriffen, die immer etwas schneller als man selbst auf der Rolltreppe fahren
es ist einer der tage an denen die zeit stehen bleibt
aber die vögel zwitschern weiter als wäre nichts
während ich eine kerze im internet anzünde
und 164 andere auch, stand heute, samstag, 23:13
ich glaube manches kriegen die vögel gar nicht mit
oder sie halten uns an weiterzuleben
mit dem wissen
auf der rolltreppe fahren die handgriffe
immer etwas schneller als man selbst
Falls ihr euch nach dem Lesen dieses Gedichts fragt, was das alles zu bedeuten hat, dann: Gratulation! Ihr seid nicht allein. Mir ging, oder besser gesagt geht, es genauso und das ist auch vollkommen legitim. Der Gedichtband ist nicht darauf aus, beim ersten, zweiten oder auch dritten Lesen verstanden zu werden. Es geht vielmehr um die Auseinandersetzung mit dem Geschriebenen und die Art und Weise, wie man immer wieder kleine Bruchteile davon herauspicken und auf sich selbst beziehen kann. Es ist vor allem auch eine Grundstimmung, die vermittelt wird: die Melancholie und die Absurdität der gegenwärtigen Zeit. Denn eine Kerze im Internet anzuzünden ist tatsächlich möglich (was ich davor auch nicht gewusst habe). Elspaß fängt ganz genaue und spezifische Beobachtungen ein, wie dass „auf der rolltreppe (…) die handgriffe immer etwas schneller als man selbst [fahren]“. Ist euch das auch vorher schon einmal aufgefallen? Genau durch solche unscheinbar wirkenden Beobachtungen und stimmungsvollen Momentaufnahmen schafft es die Lyrikerin, Nähe zu ihrem Leser aufzubauen. Diese kann sich jedoch augenblicklich wieder in Luft auflösen, wenn mal wieder von etwas die Rede ist, von dem man die tiefere Bedeutung – die vielleicht auch nicht immer da ist – nicht entschlüsseln kann. Der Text verschließt sich dem Leser und ist an einigen Stellen vielleicht auch nur für die Lyrikerin selbst verständlich. Es ist ein Spiel mit Nähe und Distanz, Durchblick und Ahnungslosigkeit, die das Leseerlebnis des Gedichtbandes prägen.
Über Sehgewohnheiten, von denen man Kopfschmerzen bekommt
ich weiß nicht mehr was dich schön gemacht hat
in meinen augen dass du aus berlin kamst
war es nicht vielleicht weil alles täuschung ist
in einer ausstellung über op-art habe ich letzte woche
viel über meine sehgewohnheiten gelernt
und dabei kopfschmerzen bekommen
bei dir war es ähnlich
(…)
Kopfschmerzen könnte man auch beim Lesen dieser Gedichte bekommen, denn die Lyrikerin verzichtet auf jegliche Interpunktion. Und so wie auch die Sehgewohnheiten des Lyrischen-Ichs auf die Probe gestellt werden, so werden es auch unsere beim Lesen der Gedichte. Denn im ganzen Gedichtband werden weder Punkt noch Komma verwendet. Auch die Großschreibung fällt komplett weg. Als Literaturwissenschaftlerin war es zunächst gewöhnungsbedürftig so etwas zu sehen, doch genau das Fehlen der Zeichensetzung zeigt uns doch, wie sehr unser Verständnis von Texten ebenfalls auf ihnen beruht. Die Lyrikerin nimmt sich die Freiheit, auf jegliche Zeichen zu verzichten und öffnet ihre Gedichte damit für eine neue Sichtweise. Sie zwingt uns praktisch, unsere Sehgewohnheiten neu zu lernen.
Die Themen, die sich durch den ganzen Gedichtband ziehen, sind vor allem die Einsamkeit, die Sehnsucht nach Nähe und die menschlichen Bedürfnisse. Ihre Thematisierung tritt vor allem in der zweiten Hälfte des Gedichtbandes auf, die den Titel „Mutter“ trägt. Hier verarbeitet das Lyrische Ich die schwierige Beziehung zur Mutter. Die Leser bekommen private Einblicke in die familiären Beziehungen, die von Sehnsucht, Hoffnung, Abstoßung und der Angst vor Einsamkeit geprägt sind.
Letzten Endes stellt uns Sirka Elspaß einen Gedichtband vor, welcher nicht leicht zu konsumieren ist. Humorvolle und ernste Momente werden in pointierte und lakonische Bilder gefasst. Man sollte bereit sein, mit mehr Fragen rauszugehen, als man reingekommen ist, denn es steht zu viel zwischen den Zeilen, um jemals alles verstehen zu können.
Sirka Elspaß: ich föhne mir meine wimpern
Suhrkamp, 80 Seiten
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 978-3-518-43078-1