Einen Landschaftsroman schreiben – das klingt nach einem postmodernen Projekt, das auf die tagesaktuellen Krisen wie den Klimawandel und das Artensterben eingeht. Tatsächlich hat ein solches Vorhaben einer der wichtigsten Vertreter der ukrainischen Schriftstellerriege „Hingerichteten Wiedergeburt“ unternommen: Mike Johansen. In Die Reise des Gelehrten Doktor Leonardo und seiner zukünftigen Geliebten, der schönen Alceste, in die Slobidische Schweiz ist aber etwas faul mit den Figuren … Was sich wohl hinter deren maskenhaften Gesichtern verbirgt?
von THOMAS STÖCK
Es war einmal in einem Land, in dem Milch und Honig flossen … Vielleicht nicht ganz so verheißungsvoll, aber doch mit einer gehörigen Portion Optimismus blickten die Menschen in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik auf ihre Zukunft. Die agrarisch geprägte Wirtschaft durchlief eine Blütezeit und entwickelte sich rasant fort. Eine eigene Schriftsprache wurde für die Menschen festgeschrieben, die in der Sowjetrepublik am Schwarzen Meer ihren Alltag verbrachten. Schriftsteller versuchten sich an neuartigen Texten, die das kommunistische Weltbild ihrer Parteigenossen auch das eine ums andere Mal aufs Korn nahmen.
Dieses verheißungsvoll klingende Land war Stalin ein Dorn im Auge und wäre beinahe aus dem Gedächtnis der Geschichte getilgt worden – soll heute erneut von der Landkarte verschwinden. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine versucht, einem ganzen Volk seine Identität sowie sein Existenzrecht abzusprechen und sich das Land einzuverleiben. Es handelt sich um das Land, das Mike Johansen vor mehr als 90 Jahren in burlesken Tönen farbenfroh ausmalte und dessen Integration in die Tradition westlichen Erzählens hier seinen Ursprung hat. Die Reise des Gelehrten Doktor Leonardo und seiner zukünftigen Geliebten, der schönen Alceste, in die Slobidische Schweiz (so der klobige Titel) entführt uns in ein Land, das heute ausgezehrt vom Krieg und von Bomben- und Artillerieangriffen gezeichnet ist.
„Pappkameraden […] als bewegliche Dekoration“
Mike Johansen (bürgerlicher Name: Mychajlo Herwasijowytsch Johansen) gilt als einer der wichtigsten Vertreter der sogenannten „Rosstriljane widrodschennja“, der „Hingerichteten Wiedergeburt“. Diese Bezeichnung meint die ukrainischen Schriftsteller in den 1920er Jahren, die durch Stalin nach und nach ermordet werden. Johansen legt uns eine ganz besondere Geschichte vor, in der die Figuren auf bloße Masken reduziert sind, wie sie typische Vertreter ihrer Zunft tragen würden. Und so wirkt die Handlung an vielen Stellen auch wie einer klischeebehafteten Komödie entnommen. Doch ist dies auch ganz in Johansens Sinne, denn der ukrainische Autor verfolgt mit seinem Roman das Projekt eines Landschaftsromans. „Protagonist“ dieser Erzählung ist die Slobidische Schweiz, ein Neologismus für das ukrainische Toponym „Sloboschanska Schwajzarija“. Die Schweiz als Toponym einer westeuropäischen Region verfolgt das Ziel, die Ukraine in eine solche Erzähltradition zu setzen. Aus dem eingangs des Romans anzutreffenden Zitat lässt sich herauslesen, was Johansen unter Landschaftsroman versteht:
„Die Personen, als reine Pappkameraden, als bewegliche Dekoration konzipiert, können […] der Beschreibung einer Landschaft die nötige Bewegung verleihen (aufgrund der natürlichen Neigung des Lesers, ihren Wegen zu folgen, als ob es sich um echte, lebendige Menschen handelte) […].“
Eine ganz ähnlich geartete Poetik verfolgt Esther Kinsky mit ihrem Werk. Wo in Kinskys Werk die Natur den Menschen zu bloßen Statisten bei dem Hervorbrechen ihrer gewaltigen Kräfte degradiert, funktioniert der Landschaftsroman in Johansens Prägung anders. Die Natur als figurales Element erblickt man hier am ehesten in Form einer kunterbunten Tierwelt. Die tierischen Akteure versieht Johansen mit dem an klassische Fabeln angelegten Sinngehalt, der sich trefflich auf das Miteinander der Menschheit übertragen lässt.
Zwischen Michail Bulgakow und Luigi Pirandello
Die Pappkameraderie mag auf den ersten Blick wenig einladend klingen, doch auch die Figuren um Doktor Leonardo und seine zukünftige Geliebte haben einiges aufzubieten. Den Auftakt zur Landschaftsschau bildet der Auftritt von Don José Pereira, einem spanischen Tyrannentöter, der es erneut auf den Mord eines Tyrannen abgesehen hat: Er will einem spanischen General an den Kragen. Was das mit Doktor Leonardo und dessen Suche nach Glück in der Liebe in der fernen Ukraine zu tun hat? Nun, der Italiener Doktor Leonardo ist der Spanier Don José Pereira – so behauptet es zumindest eine Zeitung. Aber halt! Ist Don José Pereira nicht eigentlich der Ukrainer Danko Charytonowytsch Pererva, seines Zeichens Mitglied des steppischen Bezirksverwaltungskommittees, der gar nicht durch die Schergen eines faschistoiden Generals, sondern durch Kurkulen (ukrainisches Äquivalent zu den großbäuerlichen Kulaken) verfolgt wird, weil er ein Kaninchen geschossen hat?
Ein irres Verwirrspiel um die figürlichen Identitäten entspinnt sich – immer wieder durchbrochen durch Doktor Leonardos Aufforderungen an andere Figuren, sich seinem Willen zu fügen – denn so sei es durch die Erzählung vorherbestimmt. Pirandello lässt grüßen! Und wo die italienische Metafiktion nicht weit ist, da gibt sie dem russischen Satiriker Bulgakow und dessen Meister und Magarita die Klinke in die Hand. Es ist ein wunderbares Schauspiel von den Pappkameraden, die von ihrem Autor durch die beschauliche Landschaft der Slobidischen Schweiz durch Berg und Tal, durch Fluss und Waldlichtungen getrieben werden.
Kinsky, Pirandello, Bulgakow – muss ich noch mehr sagen? Eine Augenweide ist nicht nur die Slobidische Schweiz, sondern jedes einzelne Wort von Doktor Leonardos sagenhafter Reise.
Mike Johansen: Die Reise des Gelehrten Doktor Leonardo und seiner zukünftigen Geliebten, der schönen Alceste, in die Slobidische Schweiz. Aus dem Ukrainischen übersetzt von Johannes Queck
Secession Verlag, 220 Seiten
Preis: 22,00 Euro
ISBN: 978-3-96639-064-4