Das Debüt 2022 – Punktevergabe

Der Preis für das beste Debüt des Jahres 2022 wird am 1. März 2023 verliehen.

Auch im Jahr 2022 wird der Literaturpreis Das Debüt verliehen. An der Vergabe beteiligt sind zahlreiche Blogger*innen aus dem deutschsprachigen Online-Feuilleton. Das Projekt hat sich das Ziel gesetzt, jedes Jahr zwischen Open-Mike und Ingeborg-Bachmann-Preis den Überblick im weiten Feld der Debütlandschaft zu behalten, und so diesen einen ganz besonderen Moment zu würdigen – und natürlich den besten Erstling des Jahres ins Rampenlicht zu stellen. Erstmals ist auch ein Mitglied von literaturundfeuilleton mit von der Partie. Und so hat es entschieden.

von THOMAS STÖCK

Seit 2016 lobt das Literaturblog Das Debüt alljährlich das beste deutschsprachige Romandebüt des Jahres aus. Die Lektüre der fünf Kandidaten – allesamt einer weiblichen Feder entsprungen – hat mir viel Freude bereitet. Das Abenteuer Lesen hat mich oftmals in die Welt der Liebe eingeführt, Probleme im Familienalltag haben sich dabei als ebenso unüberwindbar gezeigt, wie sich die verschiedenen fiktiven Welten als aus den Fugen geraten erwiesen haben. Um das Erzählen in den diesjährig nominierten Romanen auf einen Nenner zu bringen, lässt sich wohl am ehesten diese Formulierung verwenden: aus den Fugen geraten, die geordneten Bahnen verlassend. Fünf Geschichten auf Abwegen, sozusagen.

Damit wir nicht auf solche Abwege gelangen, beschreiten wir die bereits etablierten Pfade von Das Debüt: Die Punktevergabe findet alljährlich nach dem folgenden Schema statt: Der erstplatzierte Roman in einer Bewertungsliste erhält fünf Punkte. Der auf Platz zwei gelegene Roman erhält immerhin noch drei Punkte. Der drittplatzierte Roman erhält noch einen Punkt, die beiden übrigen Romane gehen leer aus. Mit dem Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Beitrags wird auch das Ergebnis der Punktevergabe bekanntgegeben (Sie wissen also genauso viel wie der Verfasser dieses Beitrags über das Ergebnis – also fast genauso viel natürlich). Das Ergebnis der Punktevergabe aller teilnehmenden Blogger*innen können Sie hier nachlesen.

Platz 5: Claudia Schumacher – Liebe ist gewaltig (0 Punkte)

Claudia Schumacher: Liebe ist gewaltig; Cover: dtv.

Geben Sie es zu, Sie wünschen es sich doch auch: Diese dämlichen Wunderkinder mit ihren perfekten Familien, da muss doch etwas im Argen liegen! Genau so ist es im Falle von Juli Ehre. Ihre Eltern sind beide Anwälte, sie ist schulische Überfliegerin, Balletttänzerin, in jungen Jahren Promovendin, sogar eine Esports-Karriere ist ihr mit in die Wiege gelegt. Doch ist ihr Vater kein liebevoller Familienmensch, sondern ein Tyrann, der die gesamte Familie aus nichtigen Anlässen grün und blau schlägt. Die Mutter ist nicht nur Opfer, sondern – als eine der wenigen Erwachsenen, die von den Gräueltaten ihres Mannes weiß – auch willfährige Gehilfin beim Verschleiern der Gewaltakte. Was hinter den Türen von Familie Ehres Haus geschieht, darf die Außenwelt nicht erfahren.

Was dieser Roman leisten soll und wofür er vielfach in der Presse gelobt worden ist, ist ein Psychogramm der innerlich gebrochenen Protagonistin Juli. Ich kann gut nachvollziehen, wie man zu solch einem Urteil gelangen kann. In meinen Augen zehrt der Roman dafür von seiner vermeintlich authentischen Darstellungsweise dieser Familienidylle. Denn wollen wir in die psychischen Abgründe einer Figur eintauchen, müssen wir uns in sie einfühlen können. Sie ahnen es bereits: In dem kleinen Wörtchen „vermeintlich“ steckt der Knackpunkt dieser Erzählung, denn für eine authentische Erzählung mangelt es dem Roman an so vielem.

Am leichtesten festmachen lässt sich dies an der mangelhaften Recherche der Autorin. Denn Juli beginnt eine überaus erfolgreiche Esport-Karriere, bei der sie die Chance hat, auch an einem großen Turnier teilzunehmen. Der Verfasser dieses Beitrags ist beileibe kein großartiger Fan des Videospiels Counter Strike, der die Finessen einer Erzählung über diesen Gegenstand angemessen bewerten könnte. Doch sein einem oberflächlichen Interesse entspringendes rudimentäres Wissen um diesen Esport reicht bereits aus, um die Defizite dieses Erzählteils aufzuzeigen. Esport ist eine Aufgabe, der sich professionelle Spieler Tag und Nacht verschrieben haben. Juli ist – wie wir bereits erfahren haben – absolute Überfliegerin in der Schule und auch fleißige Balletttänzerin bis zu einer Verletzung. Ihr Familienschicksal treibt sie auch vor den PC, wo sie diverse Spiele durchexerziert. Eine absolut untypische Karriere, weil professionelle CS-Spieler dafür bekannt sind, bei Tag und auch bei Nacht nichts Anderes zu spielen. Juli hingegen findet Zeit, alles Mögliche (besonders Horrorspiele, weil sie so grauenhaft sind) am PC zu zocken.

Die häufigsten Geschichten von wirklich herausragenden Progamern (zu denen Juli natürlich zählt) beinhalten kleine Brüder, die schon in jungen Jahren ihren großen Brüdern beim Zocken über die Schulter schauen und dann bis ins Erwachsenenalter nichts anderes tun als den ganzen Tag CS zu spielen. Sie haben richtig gelesen: Es sind immer Männer, die an den Majors (die größten CS-Turniere der Welt) teilnehmen. Eine Frau hat es – anders als in Liebe ist gewaltig – noch nicht geschafft, in diese Welt vorzudringen. Hätte Claudia Schumacher besser recherchiert, hätte sie auch feststellen können, warum dem so ist: Frauen nehmen an eigenen CS-Turnieren teil.

Sicherlich sind diese Fehler verzeihlich, nicht verzeihlich ist jedoch, wie Counter Strike in die Erzählung eingebettet ist. Die schon seit Jahrzehnten ausgelutschte Debatte um das Killerspiel wird von der Journalistin Claudia Schumacher wieder aufgewärmt. Ja natürlich, ein Mädchen, das in ihrer Jugend mit Gewalt aufwächst, muss in ihrer Jugend zwangsläufig zur Gewehr tragenden Killermaschine mutieren, um ihre Komplexe zu kompensieren. Krank sei das, wettert ihr Freund an einer Stelle des Romans. Wie könne sie so etwas nur spielen wollen? Ausgerechnet dieser Typ, selbst ein absoluter Vorzeigefreund der Fassade nach, schlägt sie dann. Ein auf Gewalt gegründetes Kartenhaus, dessen Sprache übrigens auch nicht „mächtig“, sondern einfallslos und plump ist. Mir entlockt dieses Debüt nur ein gequältes Lächeln aufgrund des Ärgers, den ich an so vielen Stellen aufgrund der zahlreichen Logiklücken empfunden habe, die so plump sind wie die Killerspielszenen. Ein verdienter fünfter Platz.

Claudia Schumacher: Liebe ist gewaltig
dtv, 376 Seiten
Preis: 22,00 Euro
ISBN: 978-3-423-29015-9

Platz 4: Noemi Somalvico – Ist hier das Jenseits, fragt Schwein (0 Punkte)

Noemi Somalvico: Ist hier das Jenseits, fragt Schwein; Cover: Voland & Quist.

In der Geschichte von Noemi Somalvico begegnen uns Schwein und Dachs, ein Trübsal blasendes, vor Langeweile und Einsamkeit zergehendes Wesen und ein genialer Erfinder. Letzterem gelingt es, einen nicht näher benannten Apparat zu erfinden, mit dem Schwein und Dachs zwischen den Welten wandern können. Sie gelangen so in Gottes Wohnung, der mit seiner Schöpfung nicht so recht glücklich zu sein scheint. Die anderen Götter, öfters mal bei Gott zu Besuch, empfinden seine Welt als zu vollgebaut und bemitleiden Gott für sein Werk. Dachs und Schwein sind hingegen glücklich mit Gottes Welt. Als in Gottes Wohnung ein aus Versehen eingeschleppter Fisch stirbt, begibt sich das ungleiche Trio auf die Suche nach dem Jenseits, das sie nach nochmaligem Reisen in einer Wüste entdecken. Dort steht nämlich ein Hotel namens Jenseits.

Ich würde gern mehr über diesen Roman erzählen, aber abseits des allegorischen Charakters hat er nicht viel Inhalt zu bieten. Die Figuren sind so flach konstruiert, dass der Begriff „Charakter“ für sie zu viel gesagt wäre. Warum die Figuren ausgerechnet nach Tierarten benannt werden müssen, erschließt sich zumindest mir bei der Lektüre nicht. Klar, es handelt sich um eine entfremdete, aber unserer doch ähnlichen Welt (aus Kalahari und Las Vegas werden Halakari Las Gevas – sehr clever…). Das dahinter befindliche Konzept, dass es viele Götter und viele erschaffene Welten gibt und unsere Welt gar nicht mal so toll sei, steht für mich in krassem Gegensatz zu der wunderbaren Natur, die wir auf der Erde bewundern dürfen. Und das aufgrund eines Milliarden Jahre andauernden Evolutionsprozesses. Wenn es denn unbedingt wieder Gott sein muss, warum dann ausgerechnet eine so unkreative, so alltägliche multidimensionale Welt? Wer Dante gelesen hat, kann beim Hotel Jenseits doch nur müde lächeln.

Noemi Somalvico: Ist hier das Jenseits, fragt Schwein
Voland & Quist, 144 Seiten
Preis: 22,00 Euro
ISBN: 978-3-63913212

Platz 3: Slata Roschal – 153 Formen des Nichtseins (1 Punkt)

Slata Roschal: 153 Formen des Nichtseins; Cover: Homunculus.

Aufmerksame Leser*innen unseres Blogs kennen schon unseren Platz drei. Der innovativste Roman dieses Jahres in Sachen Form stammt aus der Feder von Slata Roschal. Das Leben und Leiden Ksenia Lindaus ist eingebettet in Ebay-Kleinanzeigen, Zitate von der Website der Zeugen Jehovas und in handgeschriebene Briefe. Dabei nutzt Roschal eine zeitgenössische Version des Gedankenflusses, der Sätze nur „andenkt“. Das Konzept funktioniert zumindest für mich bedeutend besser als die „stream of consciousness“-Erzählungen um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert, was wahrscheinlich der Tatsache geschuldet ist, dass mir Roschals Denken deutlich näher ist.

An sich wäre dieser Roman ein Kandidat für den ersten Platz. Dass es für diesen ersten Platz nicht gereicht hat, dafür muss sich Roschal nicht grämen. Bei meiner Auswahl habe ich mich von dem Leitsatz tragen lassen: Inhalt sticht Form. Und in den letzten Monaten habe ich zu viele autobiografisch inspirierte Erzählungen der zweiten, in Deutschland aufwachsenden Generation von migrierten Familien gelesen, in denen der familiale Haussegen schief hängt. Und dann studiert die Protagonistin auch noch Slawistik – genau wie die Autorin! Na gut, die Zeugen Jehovas gemeinsam mit dem jüdischen Hintergrund waren neu, aber die ewig gleichen Stereotypen ärgern mich mittlerweile genau so wie die Autor*innen. Haha, der Russe trinkt Vodka in seinem Kaffee. Frau Roschal, ich bitte Sie, bleiben Sie sich treu. In Ihrem Erzählen steckt ein enormes Potenzial. Nur würde ich mir wünschen, dass Sie es auf einen kreativeren Erzählgegenstand anwenden als auf die eigene Lebensgeschichte.

Slata Roschal: 153 Formen des Nichtseins
Homunculus, 176 Seiten
Preis: 22,00 Euro
ISBN: 978-3-946120-94-0

Platz 2: Annika Büsing – Nordstadt (3 Punkte)

Annika Büsing: Nordstadt; Cover: Steidl

Zu meinem zweiten Platz habe ich an anderer Stelle schon fast alles gesagt. In vielerlei Hinsicht stellt Büsings Roman das Spiegelbild von Claudia Schumacher dar. Statt gut situiert ist die Protagonistin in ihrer Jugend verwahrlost, statt Überfliegerin ist sie einfache Bademeisterin. Immerhin, die Gewalt hat Nene genau wie Juli durchleiden müssen. Nur wirkt das Ganze so viel authentischer in Nordstadt. Wenn man von Arschlöchern, Krüppeln und Impotenz erzählen kann, ohne mit der Wimper zu zucken, dann hat man Vieles richtig gemacht.

Annika Büsing: Nordstadt. Roman
Steidl, 128 Seiten
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 978-3-96999-064-3

Platz 1: Ursula Knoll – Lektionen in dunkler Materie (5 Punkte)

Ursula Knoll: Lektionen in dunkler Materie; Cover: Edition Atelier.

Tja, die Nordstadt muss wohl oder übel dem Weltall weichen. Das Debüt der österreichischen Autorin Ursula Knoll verheißt zugleich langweiligen Behördenalltag, Überstunden in der Kindertagesstätte und Odyssee im Weltraum. Wenn plötzlich eine Beamtin alle Asylbescheide aus Frust nur noch positiv bewertet, eine Astronautin auf ihren Roboter eindrischt und eine alleinerziehende Mutter den Kindergarten besetzt, dann läuft etwas schief. Wenn man dann noch im Supermarkt mit Tomaten wild um sich zu werfen beginnt, weil die große Liebe von der Mafia totgefahren wurde, beginnt der wilde Ritt durch die Lektionen in dunkler Materie.

Vortrefflich funktioniert der andauernde Perspektivwechsel zwischen den Protagonistinnen. Ausschließlich Frauen erheben sich hier gegen die erlittenen Unrechte. Sie merken es: Ein gesellschaftliches Sprengpotenzial tut sich in Knolls Roman auf, das mir zwar eine Spur zu harsch daherkommt – aber was soll’s! Die originelle Geschichte um eine Weltraummama hat es mir einfach angetan. Die Macherinnenattitüde der vielzähligen weiblichen Figuren tritt an die Stelle des Fatalismus, dem sie sich zeitlebens hingegeben hatten. Wobei das Schicksal beziehungsweise der Zufall doch mitspielt, wenn so unterschiedliche Menschen wie die Romanfiguren zusammenfinden. Aber mehr möchte ich an dieser Stelle gar nicht verraten. Ein verdienter erster Platz für ein außergewöhnliches, ein außergewöhnlich gut gelungenes Romandebüt, das auf weitere Erzählungen um Weltraummamas hoffen lässt.

Ursula Knoll: Lektionen in dunkler Materie
Edition Atelier, 248 Seiten
Preis: 22,00 Euro
ISBN: 978-3-99065-068-4

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