Von Wortträumereien und Übersetzen

Pascal Mercier: Das Gewicht der Worte; Cover: Hanser Verlag

Es wird mal wieder Zeit für einen Throwback-Thursday! Denn manchmal entdeckt man Bücher für sich ja erst, wenn diese schon eine Weile auf dem Markt sind. So auch Pascal Merciers Das Gewicht der Worte. Im Jahr 2020 erschienen, erzählt der auf Deutsch verfasste Roman die Geschichte eines leidenschaftlichen Übersetzers, dem anfangs die Worte fehlen. Eine Erzählung über das Leben, die Liebe zur Sprache und wie sich beides verändern kann.

von VIKTORIA GORETZKI

Simon Leyland soll sterben. Zumindest denkt er das für siebenundsiebzig Tage, denn bei ihm wird ein Gehirntumor diagnostiziert. Leyland ist Übersetzer. Er liebt Sprachen und seinen Beruf, der für ihn vielmehr eine Berufung ist. Seitdem er im Haus seines Onkels in London eine Weltkarte gesehen hat, hat Leyland das Ziel, all die Sprachen der Länder zu lernen, die ans Mittelmeer grenzen. Sein Onkel teilt die Liebe zum Lernen fremder Sprachen und unterstützt ihn in seinem Vorhaben. Jetzt ist Leyland in der Blüte seines Lebens angekommen. Nach dem Tod seiner Frau Livia hat er den Verlag ihrer Familie übernommen und arbeitet noch immer als Übersetzer. Und nun denkt er, dass sein Leben zu Ende geht. Siebenundsiebzig Tage sind eine lange Zeit, um das eigene Leben zu hinterfragen und Vorkehrungen für sein baldiges Ableben zu treffen. Er verkauft den Verlag, beschließt, dass er den Tumor nicht gewinnen lassen wird und dann – Fehldiagnose. Durch eine Vertauschung in der Radiologie sind in Leylands Umschlag die falschen Bilder gelandet. Er hat keinen Gehirntumor, sondern nur eine ziemlich heftige Form von Migräne. Und jetzt hat er jede Menge Zeit, um herauszufinden, welches Leben er zukünftig führen möchte.

„Träumereien von geteilten Wortgeheimnissen“

Leyland schreibt teilweise langatmige Briefe an seine verstorbene Frau, in denen er sein Leben vor, während und nach der Diagnose reflektiert, wodurch es möglich wird, ihn zu unterschiedlichen Phasen seines Lebens kennenzulernen. Aus diesen Briefen wird deutlich, wie er überhaupt zum Übersetzen kam und die Liebe zu den verschiedenen Sprachen entdeckt hat. Während eines Jobs als Portier in einem Hotel beginnt der junge Leyland, verschiedene Sprachen zu lernen. Italienisch, Französisch, Griechisch – er unternimmt auch einige Reisen, um die Sprachen tatsächlich zu hören und zu sprechen. Schließlich bekommt er während seiner Arbeit die Gelegenheit, ein paar Kapitel aus einem Kinderbuch zu übersetzen – Leylands Sprungbrett. Endlich arbeitet er als Übersetzer, übersetzt Texte aus dem Italienischen und Deutschen sowie einigen weiteren Sprachen ins Englische und lernt Livia kennen – die Liebe seines Lebens. „Livia liebt Kunst – vor allem Vermeer – und Wörter, genau wie Leyland.“ Livia ist Journalistin, kommt gebürtig aus Triest, ihrem Vater gehört ein Verlag, sie spricht zu Beginn ihrer Beziehung Italienisch und Französisch, aber kein Englisch. Doch das ist auch nicht wichtig, denn Livia und Leyland haben keine feste Sprache. Sie unterhalten sich in der Sprache, in der sie am besten ausdrücken können, was sie sagen möchten.

Er und Livia – sie hörten an den Wörtern Dinge, die sonst niemand hörte, manchmal kam es ihnen vor, als lebten sie in einem eigenen Klang- und Bedeutungsraum, einem ganz privaten Raum, der für andere verschlossen blieb.

Beschrieben werden dabei nicht nur die unterschiedlichen Bedeutungen von bestimmten Wörtern in anderen Sprachen, sondern auch, wie Töne und Klänge sowie Artikulation und Aussprache durch das Verwenden anderer Sprachen beeinflusst werden und dann einige Wörter nicht mehr angemessen das ausdrücken können, was man eigentlich sagen möchte. Nach Leylands verheerender Diagnose beginnt er nun, sein Leben zu reflektieren und was ihn an der Arbeit als Übersetzer so fasziniert. Es ist nicht nur das Spiel mit den Sprachen, sondern auch Leylands „Wortträumereien“, die ihn so beschäftigen. Dann denkt er über Wörter in den verschiedenen Sprachen nach und was diese überhaupt bedeuten. Nicht viele scheinen Leylands „Wortträumereien“ zu verstehen und so ist es für ihn jedes Mal schön, auf Gleichgesinnte zu treffen, die die Liebe zu Worten teilen. Doch nicht nur die Aussprache von Wörtern und ihre Veränderung, wie zum Beispiel, wenn jemand eine Lautsprecherdurchsage macht, thematisiert der Roman. Die Figuren sprechen auch in unterschiedlichen Sprachen, indem beispielsweise gezielt englische oder französische Begriffe ausgesprochen werden, um die Bedeutungen zu präzisieren. Somit wird nicht nur Leyland zum Sprachentalent: Auch die anderen Figuren werden durch die Verwendung von verschiedensprachigen Sprichwörtern oder Ausrufen charakterisiert. Faszinierend ist auch, wie neben dem Klang von Wörtern und ihrer Adäquatheit beschrieben wird, wie unterschiedlich die Figuren sprechen. Leylands Freund Andrej zum Beispiel lässt sich mit seinen Antworten immer Zeit, weil er sich von anderen nicht diktieren lassen möchte, wann er zu antworten hat. Anstatt Floskeln zu verwenden, macht er Pausen, um keine unnötigen Wörter zu verschwenden. Durch die verschiedenen Sprachen, die die Figuren sprechen sowie ihre Eigenarten beim Sprechen selbst erhält jede Figur eine gewisse Individualität.

„Poesie – sie ist ein Mittel, die Zeit anzuhalten“

Als Leyland erfährt, dass sein Gehirntumor eine Fehldiagnose war, reist er zurück in seine Heimatstadt London, um einige Zeit lang in dem Haus seines verstorbenen Onkels zu wohnen. Für Leyland ist es ein Neuanfang, ein Cut, um das Leben, das er bis dahin in Triest geführt hat, zu reflektieren und neu zu beginnen. Anders zu beginnen. Er besucht die Orte, von denen er sich vorgenommen hat, sie nochmal zu sehen, trifft Freunde, die er länger nicht besucht hat. Doch wie er sein neues Leben gestalten möchte, das weiß er noch nicht. Es ist vielmehr ein Versuch, die Ereignisse zu verstehen, die ihn zu diesem Punkt seines Lebens geführt haben als ein konkreter Plan, wie er nun seine Zukunft gestalten möchte. Aber es ist nicht nur Leylands Leben, das sich verändert. Es scheint, dass die Zeit der fälschlichen Diagnose auch Auswirkungen auf das Leben von Leylands Kindern und seinen Freunden nimmt. In London freundet Leyland sich mit Kenneth Burke an, der rasch zu einem engen Vertrauten von ihm wird. Burke versteht Leylands „Wortträumereien“ und findet schließlich über Leyland den Weg zur eigenen kreativen Entfaltung. Freunden von Leyland gehört ein Verlag in London, welcher schon längere Zeit rote Zahlen schreibt. Leyland bemerkt, dass er zwar nichts mehr mit der Verlagswelt zu tun haben möchte, aber seine Freunde kann er nicht im Stich lassen und so unterstützt er sie finanziell. Und auch seine Kinder machen Veränderungen durch: Während sein Sohn einen neuen Job annimmt, beschließt Leylands Tochter, dass sie nach ihrem Medizinstudium nicht als Ärztin arbeiten, sondern sich neu erfinden möchte. Genauso wie ihr Vater reflektieren Leylands Kinder die Zeit während der Diagnose und wie sich durch sie alles verändert hat. Um Leyland herum entsteht ein kleiner Kreis von Menschen, die durch ihn, oder auch mit ihm, neue Möglichkeiten im Leben entdecken und sich über Gott und die Welt austauschen können. So auch über Politik und Medizin, Schreiben und Momentaufnahmen oder auch über Poesie, die sie alle miteinander verbindet: „Poesie – sie hat, scheint mir, mit der Erfahrung von Zeit zu tun […]. Vielleicht könnte man sagen: Sie ist eine Art, die Gegenwart ganz Gegenwart sein zu lassen. Ein Mittel, die Zeit anzuhalten.“  Und manchmal hat man während des Lesens genau dieses Gefühl: Als würde die Zeit für einen kurzen Augenblick angehalten werden.

Wörter mit Gewicht

Leylands Arbeit als Übersetzer zeigt ihm, wie Sprache und Texte funktionieren. Als Übersetzer ist er nah an den Erzählungen und den Autoren dran.  Er versteht, wie sie arbeiten, wie Figuren und die Magie entstehen: „Wenn der Übersetzer einen Text liebe, kenne er ihn besser als der Autor“. Übersetzen scheint eine Kunst zu sein, die richtigen Wörter, den richtigen Ton, die richtige Sprache zu finden, durch die zum Autor eine gewisse Bindung entsteht. Für Leyland ist es unvorstellbar, dass er einmal selbst Autor sein könnte, obwohl sowohl Livia als auch sein verstorbener Onkel ihn bereits dazu ermutigt haben. Doch während der Migräneanfälle fehlen Leyland oft die Worte und er hat Angst, dass er diese für immer verlieren könnte. Und so scheint es, als bekommen alle Wörter dadurch mehr Gewicht. Als Leyland schlussendlich an einem Punkt ankommt, an dem alles überwunden zu sein scheint und er selbst sowie seine Freunde neue Wege gefunden haben, ihre Leben zu leben, überkommt ihn dann doch das Verlangen, selbst etwas zu Papier zu bringen. Für ihn ist es seltsam, nun einmal auf der anderen Seite zu sein und sich selbst die zahlreichen Details und Figuren ausdenken zu müssen. Mit der Arbeit an seinem eigenen Text scheint Leyland nochmals sich selbst zu festigen, denn ähnlich wie er kommt auch seine Figur in eine neue Umgebung, um über das Leben und Neuanfänge nachzudenken. Seine Figur scheint rasch in eine kleine, neue Familie und in ein neues Leben aufgenommen worden zu sein – genauso wie Leyland selbst. Merciers Das Gewicht der Worte ist nicht nur ein Roman über die Liebe zu Wörtern und Sprachen, sondern auch über die Sprache des Lebens und wie man diese wiederfinden kann.

Pascal Mercier: Das Gewicht der Worte
Hanser Verlag, 573 Seiten
Preis: 26,00 Euro
ISBN: 978-3-446-26569-1

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