Welchem Büchner-Preisträger ließe es man wohl durchgehen, einen so ganz unironischen Roman über einen selbstgerechten Fanatiker zu schreiben? Nun… Aber wer könnte es so behutsam und literarisch einwandfrei umsetzen wie Clemens J. Setz in seinem neuen Buch? Weniger verspielt als seine anderen Werke, ist Monde vor der Landung trotz einigen Zweifeln ein großartiger Roman. Denn die Geschichte des historischen Hohlwelt-Theoretikers Peter Bender nimmt die Leser*innen sofort mit und bietet ein Einfühlungsvermögen, das bei einem solchen Protagonisten ein kleines Wunder ist.
von FELIX JUETERBOCK
Keine Frage, Clemens J. Setz kann erzählen. Wie sonst wäre es möglich, dass eine Figur, deren Leben und Denken mir grundunsympathisch sind, hier ein so detailreiches und klug ausgestaltetes Eigenleben entfaltet, dass ich nicht anders konnte als weiterzulesen?
Monde vor der Landung ist kein psychologischer Roman und dennoch entsteht hier ein Psychogramm, das vielleicht mehr erzählt als nur die Geschichte eines versponnenen Sonderlings. Denn es ist auch ein Buch über die Zeit zwischen den Weltkriegen, abgesteckt durch die persönlichen Erfahrungen Benders: vom Fliegereinsatz in Ostpreußen bis hin zum Nationalsozialismus, den auch er nicht als Gefahr wahrnehmen will oder kann. Das liest sich flüssig und elegant, ist beinahe formvollendet geschrieben. Man muss dabei auch nicht, wie bei Indigo, mit Kopfschmerzen rechnen, die aus der Diegese auf die Leser*innen übergreifen, lediglich mit einem leisen Weltverwirbelungsgefühl, wenn man aus der kruden Welt des Peter Bender wieder auftaucht…
‚Staunender Zeigegestus‘?
Die Frage ist: Braucht es das – die mitfühlende Geschichte eines Verschwörungstheoretikers in der Weimarer Republik, so ganz ohne postmodernen Haken und Ösen – ohne ironische Brechung, wie sie FAZ-Rezensent Andreas Platthaus vermisst? In seiner Kritik am „staunenden Zeigegestus“ verfehlt er jedoch das Wesentliche, das Setz stets an seinen Außenseiterfiguren interessiert. Ihm geht es nicht um Dekonstruktion oder das postmoderne Spiel mit Begriffen; sondern um die Formen, wie Figuren alternative Wirklichkeiten konstruieren, erleben, erzählen. Sein Interesse ist kein metaphysisches, auch nicht unter umgekehrten Vorzeichen; im Zentrum steht stattdessen die Frage nach der Realität der Realität. Es ist gerade kein „Zeigegestus“, der sich hier manifestiert, sondern die Anerkennung eines existentiellen Welterlebens, welches sich sozusagen neben dem Boden der Tatsachen abspielt. Ob es das brauchte, darf und muss jede*r Leser*in trotzdem selbst entscheiden.
Eine ironisch gebrochene Erzählhaltung läuft immer Gefahr, ihr Thema nicht ernstzunehmen. Genau das aber gelingt Setz ganz wunderbar: Peter Bender wird nicht vorgeführt, sein Weltbild nicht „korrigiert“, wohlgemerkt auch nicht gerechtfertigt. Seine „Sünden“ – Lügen, Neid, Ehebruch – stehen glasklar im Raum. Literarisch ist das gekonnt gelöst, weil der Roman seine Figur sozusagen betont distanziert entblößt, während er schonungslos die Naivität und Lächerlichkeit seines Protagonisten offenlegt. Einmal in einem Setz-Roman hat man nicht das Gefühl, bei der Geschichte liefe irgendwo eine versteckte Kamera mit. Keine Frage, Setz kann erzählen.
Die Liebe zur Zeit des landenden Mondes
Das titelgebende Bild entspringt der Theorie Benders, nach der im Laufe der Zeit Monde auf der Erde gelandet seien, die jeweils etwas Neues freigesetzt hätten: eine Art Evolutionstheorie der Hohlwelt. An anderer Stelle fantasiert Bender über die Möglichkeit, die eiförmige Hohlerde könnte selbst auf andere Körper treffen und sich mond-ähnlich in diese ergießen: „Aber wenn irgendwann doch die eigentliche, die definitiv letzte Landung geschah und unsere Erde aufbrach, was würde dann mit den Menschen geschehen? In was verwandelten sich die Ei-Bewohner in der Welt außerhalb?“
In nichts Gutes, ist von unserer Seite anzunehmen, denn der Mond, der sich da im Landeanflug befindet, ist der Nationalsozialismus, und Bender darf bis zum Ende den selbstgerechten Blinden spielen, dessen Augen nichts sehen, weil sie tief ins eigene Innere gerichtet sind. Sein Blick dringt nicht einmal bis zu seiner Frau durch. Charlotte Bender unterstützt ihren Mann, sorgt für Einnahmen selbst während der schwierigen Zeit der Inflation, steht bei seinen Vorträgen an der Kasse, kümmert sich um die Kinder. Aber diese Aufopferung geschieht still, denn Bender kann in seiner Fixierung auf das Hohlweltbild nicht einmal das wahrnehmen. Sein vulnerabler Narzissmus trägt dazu bei, dass er die Liebe nicht sieht, wo sie geschieht, und dass ihm die Wirklichkeit um die Ohren fliegt, während er konzentriert seinen fixen Ideen nachträumt.
Das wäre wohl auch die Aussage des Buches, wenn es eine gäbe: Flucht in die Metaphysik unter Ausschluss der sozialpolitischen Verhältnisse führt zu privatem und gesellschaftlichem Niedergang. Aber das ist ja graue Theorie, und der Roman sprüht nur so von Leben! Setz lädt uns wieder einmal zur ungerechtfertigten Faszination am weirden und queeren Anders-Wirklichen ein, zu einem Spektakel menschlicher Realitätskonstruktion.
Ein Ende in Scherben
Ein schwacher Wermutstropfen ist die formale Konstruktion des Endes: Angesichts des Eingangs in die Dunkelheit der 1940er Jahre, wird der Blick mehr und mehr von Bender abgezogen. Das Fragmentarische nimmt zu, der dokumentarische Charakter des Buches scheint plötzlich leitend zu werden. Und ich frage mich: Warum wird die musikalisch gleitende Erzählweise des Buches hier aufgebrochen?
Ist es aus Andacht, den Faschismus nicht ganz in Fiktion einzuwickeln, nicht in eine Annehmlichkeit des Lesens zu verwandeln? Ist es eine Kapitulation vor den qualvollen Trieben, die hier aufeinandertreffen: Charlottes Verzweiflung angesichts des hochkochenden Antisemitismus einerseits, Peter Benders Selbstüberschätzung und Verleugnung der Gefahr andererseits, ganz zu schweigen vom Wahnsinn, der sich seiner bemächtigt? Beide Modelle wirken mir zu plump.
Auf den letzten Seiten wird Peter Benders Geschichte zu Ende erzählt, auch über seine Person hinaus. Der Erzähler nimmt also langsam Abstand (wie ein Mond beim Abflug) und sendet blitzlichtartig seine Informationen in unsere Richtung, bevor es endgültig dunkel wird. Das fragmentierte Ende ist eben auch das Brüchigwerden der Erzählung: Es ist die Shoah, die hier formal heranbraust. Vielleicht endet nicht jede Geschichte in Scherben; diese tut es.
Clemens J. Setz: Monde vor der Landung
Suhrkamp, 528 Seiten
Preis: 26,00 Euro
ISBN: 978-3-518-43109-2
Ich hatte gerade gelesen bis “Welchem Büchner-Preisträger ließe es man wohl durchgehen…”, und wusste schon: Setz. Definitiv Setz 😀 .
Tolle Rezension! Habe mir das Buch bereits bestellt 🙂