Großartige literarische Neuheiten müssen nicht immer neu sein: Mit Requiem von Karl Alfred Loeser ist eine der spannendsten Neuerscheinungen der Frühjahrssaison ein Roman, der schon vor vielen Jahrzehnten verfasst wurde – und dann als unveröffentlichtes Manuskript geschlummert hat. Glücklicherweise hat es dieser grandiose Roman über die frühe NS-Zeit nun in die Öffentlichkeit geschafft. Ein sowohl sprachlich als auch erzählerisch gelungenes Werk!
von CAROLIN KAISER
Peter Graf hat sich mittlerweile in der deutschsprachigen Literaturszene einen Namen als Ausheber literarischer Schätze aus den 1920ern und 1930ern gemacht. Laut eigener Aussage verbringt Graf viel Zeit in Archiven, um auf bislang unveröffentlichte Manuskripte zu stoßen, deren literarische Qualität auch noch Jahrzehnte nach dem Tod der Autoren eine Veröffentlichung rechtfertigen. Anscheinend ist der Berliner Verleger aber nicht mehr auf seine eigene Recherche angewiesen – die Schätze kommen nun von selbst zum Schatzsucher! Zumindest bei dem Manuskript von Karl Alfred Loesers Requiem war dies der Fall. Ein Urenkel des deutsch-jüdischen Emigranten hatte von Graf und seiner Arbeit gehört und ihm prompt den unveröffentlichten Roman des schon verstorbenen Bankangestellten und Freizeitschriftstellers zugeschickt. Und was für einen Roman er da verschickt hat! Im stillen Kämmerlein hatte Loeser, der Mitte der 1930er aus Deutschland über Amsterdam nach Brasilien geflohen war, geschrieben, geschrieben, geschrieben, ohne es wirklich nach außen zu kommunizieren: Gedichte, Novellen, Theaterstücke – und eben Romane. Darunter auch jenes Manuskript, das nun unter dem Titel Requiem posthum zur ersten Publikation Loesers wird.
Hass und Kunst sind wie Öl und Wasser
Requiem ist das Psychogramm einer durchschnittlichen, leicht provinziellen, mittelgroßen, deutschen Stadt Mitte der 1930er Jahre. Die Ausgrenzung und Verfolgung jüdischer Deutscher durch die Nationalsozialisten schreitet unerbittlich voran, auch wenn es noch einige von ihnen gibt, die vergleichsweise unbehelligt ihrem Leben nachgehen und das wirkliche Ausmaß des drohenden Unheils verkennen, vielleicht auch verkennen wollen. Einer dieser Unbesorgten ist der Solocellist Erich Krakauer, der im städtischen Orchester dank seiner musikalischen Fertigkeiten und dem Respekt seiner Kollegen trotz seiner jüdischen Herkunft und der zunehmenden antisemitischen Hetze weiterhin angestellt ist. Doch Krakauers Privileg, sich mit der innenpolitischen Lage in seiner Heimat nicht auseinandersetzen zu müssen, verflüchtigt sich, als der junge Bäckerssohn und SA-Mann Fritz Eberle ein Auge auf Krakauers prominente Position im Stadtorchester wirft – obwohl er alles andere als ein begnadeter Musiker ist. Aus dem Neid und der Missgunst des in sämtlichen Lebensaspekten unterdurchschnittlich veranlagten Eberle entwickelt sich schnell Hass auf den ihm weitestgehend fremden Mann. Aus diesem Hass entspinnt sich schließlich eine Intrige, die Krakauer nicht nur um den Arbeitsplatz, sondern auch um seine Freiheit bringt. Doch Krakauer hat Glück: Weder seine Ehefrau noch zwei seiner ehemaligen Kollegen wollen die Schmierkampagne widerstandslos hinnehmen.
„Was bleibt einem anderes übrig, als mit den Wölfen zu heulen?“
Was Requiem neben seinem ungewöhnlichen Weg in die Veröffentlichung so besonders, so faszinierend macht, sind zum einen die Figuren, zum anderen die Sprache. Der Roman verwendet eine Erzählposition, die von Figur zu Figur springt. Über den Verlauf des Romans sind es fast ein Dutzend Figuren, über deren Gedanken, Gefühle und Sichtweisen die Lesenden die Handlung verfolgen. Doch trotz dieser Vielzahl an oftmals äußerst unterschiedlichen Perspektiven zersplittert der Roman an keiner Stelle. Die Wechsel sind fließend und doch macht der Text zu jederzeit deutlich, durch welchen Kopf wir das Geschehene gefiltert bekommen. Das liegt einerseits daran, dass es trotz dieses Hineinzoomens in die verschiedenen Figuren eine neutrale Erzählinstanz gibt, die den Text vor der erzählerischen Zerfaserung bewahrt. Andererseits hat Loeser schlichtweg ein Händchen für Figurenzeichnung, so dass es den Lesenden ein Leichtes ist, das wichtigste Romanpersonal auseinanderzuhalten. Loeser beweist dabei ein feines Gespür für die Psyche seiner Zeitgenossen, insbesondere jener, die sich in den Dienst des Nationalsozialismus gestellt haben. Da gibt es die kleinbürgerlichen Antisemiten, die ihre etablierten Ressentiments weder infrage stellen noch begründen können; ruchlose Opportunisten, die für ein bisschen Geld und Ansehen gegen jeden keifen; nicht weniger ruchlose Opportunisten, die für ihre eigene Karriere jüdische Deutsche als Kollateralschaden hinnehmen, obwohl sie selber vom Antisemitismus wenig halten; Weltkriegsveteranen, deren falsch verstandenes Pflicht- und Ehrgefühl sie zu Vertretern eines unehrenhaften Regimes macht, aber auch Leute, die schlichtweg Angst vor Repressionen haben und sich dazu entscheiden, lieber „mit den Wölfen zu heulen“ als selber zu Gejagten zu werden. Richtige Vollblutantisemiten gibt es in Requiem erstaunlich wenige – bei den meisten sind es Hass, Missgunst und Prestigesucht, die sich schließlich im Judenhass Bahn brechen und ein gesellschaftlich akzeptiertes Gefäß finden.
Zwischen Verzweiflung und Hoffnung, zwischen Schlichtheit und Emphase
Dass es bis auf den Möchtegerncellisten Fritz Eberle und seine rüpelhaften SA-„Kameraden“ kaum andere Figuren gibt, die den klassischen völkermordfantasierenden NS-Antisemitismus vertreten[1], liegt auch daran, dass der Roman sich – ähnlich wie sein Protagonist Erich Krakauer – einen gewissen Grundoptimismus behält. Das kann man angesichts der Shoah für naiv, gar für verantwortungslos halten. Man kann es aber auch als Warnung verstehen: Für einen Völkermord braucht es keinen weit verbreiteten hetzerischen, extremen Hass auf eine Minderheit – leichte Vorbehalte gepaart mit Angst und Neid sowie ein Regime, das diese für seinen Hass orchestriert, können schon ausreichen. Diese ambivalente Haltung, dieses Oszillieren zwischen der Darstellung antisemitischer Verfolgung und dem Glauben daran, dass Nationalsozialismus und Shoah in Deutschland nicht unabwendbar waren, schlägt sich auch in der Sprache des Romans nieder. Die weitestgehend schlichte Prosa weicht gelegentlich einer fast schon lyrischen Emphase, die zwischen Verzweiflung und Hoffnung pendelt:
„Als die ersten politischen Gegner gefangen und gefoltert wurden, als der Reichstag brannte, als man mit roher Gewalt die Bevölkerung zwang, die verhassten Fahnen zu hissen, als die Judenhatz begann und die Bücher auf den Scheiterhaufen brannten, wie viele hatten da gehofft, es würde etwas geschehen. Irgendetwas. Dass man vielleicht eingreifen und nicht untätig mit ansehen würde, wie Recht und Freiheit und Geist niedergeknüppelt wurden, oder sogar, dass die Natur selbst sich zur Wehr setzen würde gegen so viel Unnatur. Doch nichts geschah. So, wie das Herz Schlag auf Schlag folgen lässt, unermüdlich und unaufhaltsam, ob Freude oder Schmerz, so hatte sich Stunde an Stunde und Tag an Tag gefügt, und so würde weiter die Zeit im Gleichmaß verrinnen, bis… Ja, bis vielleicht doch mal etwas geschähe.“
An Passagen wie dieser merkt man eines schnell: Loeser hatte Talent. Vielleicht verbergen sich im Nachlass des Emigranten ja noch weitere Schätze. Das Jahr ist zwar noch jung, aber eine Behauptung zum literarischen 2023 wage ich trotzdem schon: Requiem ist eine der überzeugendsten Neuerscheinungen des Jahres.
Karl Alfred Loeser: Requiem. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter Graf
Klett-Cotta, 320 Seiten
Preis: 24,00 Euro
ISBN: 978-3-608-98684-6
[1] Was nicht heißt, dass der Roman antisemitische Vorbehalte in der deutschen Bevölkerung verneint oder ausblendet.