Insel der Unglückseligen

Tarjei Vesaas: Der Keim; Cover: Guggolz Verlag

Auf einer beschaulichen Insel geschieht ein Mord – und nun übt die Dorfgemeinschaft Selbstjustiz. So ließe sich Tarjei Vesaas‘ Der Keim in einem Satz zusammenfassen. Was den erstmals 1940 erschienenen Roman zu so einer spannenden Lektüre machen, sind Vesaas Gespür für das Bedrohliche im Alltäglichen und die Frage danach, wie man in einer kollektiven Gewalttat den Alleinschuldigen identifiziert.

von CAROLIN KAISER

„Über der Insel lag ein Moment des Ausruhens. Einer von diesen halbfreien Tagen, die es geben konnte, wenn Wachstum und Wetter danach waren. […] Die gemähten Wiesen waren immer noch grün, die Äcker leuchteten. Bald hieß es wieder arbeiten, bis der Schweiß troff. […] Doch heute herrschte Ruhe, fast sonntägliche Schläfrigkeit.“

In diesem bäuerlichen Idyll, das Tarjei Vesaas auf den ersten Seiten seines Romans Der Keim ausbreitet, deutet zunächst wenig daraufhin, dass man es als Leser:in hier nicht mit einem seichten Provinz- und Naturroman zu tun hat, sondern mit einer literarischen Studie darüber, wie schnell sich friedliebende Menschen in blind-berauschte Hetzjäger:innen verwandeln können. Der Mensch als Bestie inmitten beschaulicher Inselromantik – eine nur vermeintliche Diskrepanz, die Vesaas in einen Roman einwebt, den man auch als eine Art Anti-Krimi bezeichnen könnte. Denn obwohl gleich zwei Verbrechen im Mittelpunkt der Handlung stehen, sind es nicht das Wer/Wie/Was/Warum der Taten und die leicht makabre Lust am blutigen Rätsellösen, die den Roman kennzeichnen, sondern das Nachwirken von Gewalttaten auf die Gemeinschaften, in denen sie stattfinden.

Der Mensch ist dem Mensch ein Jagdhund

In Der Keim ist diese Gemeinschaft eine kleine norwegische Insel, auf der jeder jeden kennt und die Jahreszeiten den Rhythmus des Alltags vorgeben. Die Inselruhe gerät aus ihrer Gewohnheit als ein Fremder auf die Insel kommt. Ein junger Mann, der durch das Grün der Insel streift, suchend und doch ziellos. Er weicht den meisten Versuchen von Kontaktaufnahme der Inselbewohner:innen zunächst aus, nähert sich aber schließlich der Obstbauerntochter Ingrid an – und ermordet sie im Dickicht der Inselnatur. Der gewaltsame Tod Ingrids bleibt nicht lange unentdeckt. Schnell erreicht die Nachricht jeden Winkel der Insel. Mit der Todesnachricht verbreitet sich aber noch etwas anderes unter den Insulaner:innen: der Wunsch nach Rache, nach Gewalt, nach dem biblischen „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Was folgt ist eine Hetzjagd der wildgewordenen Inselleute, die den flüchtenden – und wie sich herausstellt, von einer Fabrikexplosion stark traumatisierten – Fremden jagen wie ein Rudel abgerichteter Jagdhunde. Männer, Frauen, Alte, Kinder – nur wenige können sich dem Sog der Gewalt entziehen. Ganz vorne mit dabei ist der Bruder der Ermordeten, Rolv. Der Fremde wird schließlich auf dem elterlichen Hof Ingrids und Rolvs gefangen und ohne Zögern von der gesamten Meute erschlagen. Schon wenige Momente nach der vollbrachten Tat lichtet sich der gewaltlüsterne Nebel vor den Augen der Mobmitglieder und die Menge zerstreut sich schnell, erschrocken ob der eigenen Willigkeit zum Töten. Schuld möchte sich niemand eingestehen. Stattdessen ist ein Alleinschuldiger rasch gefunden: Rolv.

Mitläufer:innen und Sündenbockifizierung

Was diese doppelte Gewalttat mit der Inselgemeinschaft macht, steht im Zentrum des restlichen Romans: die Reue nach dem Mitläufer:innentum, verbunden mit dem selbstschützenden „Aber der da hat angefangen!“, die Sündenbockifizierung eines ehemaligen Komplizen. Erfreulich an dem Roman ist, dass er sich der emotionalen Verfassung der Mitschuldigen nähert, ohne sich in pseudopsychologische Spielereien zu verrennen. Überhaupt ist Der Keim trotz seiner drastischen Handlung ein schlichter, unaufgeregter Roman – sowohl sprachlich als erzählerisch. Die Hetzjagd ist nicht als nervenaufreibendes Katz- und Mausspiel umgesetzt, auch die Tötungsakte sind Vesaas nur wenige Sätze wert. Solche Inszenierungen hätten quer gestanden zum Rest des Romans und Vesaas war glücklicherweise als Schriftsteller selbstdiszipliniert genug, um die Gewalttaten zwar zum Kern der Handlung, nicht aber zum Kern des Romans zu machen. Vesaas gelingt es stattdessen, auf ganz andere Art und Weisen Spannung zu erzeugen. So fungieren etwa ein paar plötzlich wildgewordene Zuchtschweine zu Beginn des Romans als blutiges Omen für die menschlichen Gewalttaten, die der Insel kurz bevorstehen. Dem ganzen haftet eine gewisse Ominösität des Alltäglichen an. Ein Augenblick, wenige Stunden vor dem schweinischen Tobsuchtsanfall:

„Allzu glänzend standen lange Reißzähne aus den Schweineschnauzen hervor. Zähne, die aus der Schwarte ragten – unter der sich vorwölbenden, zu Falten geschobenen und verdunkelten Stirn.“

Trauen mag man als Leser:in der bäuerlichen Ruhe so von Anfang an nicht bedenkenlos. Es ist dieses langsame Aufbauen von Unbehagen und Spannung durch Beschreibungen alltäglicher Szenarien – hier Schweine im Schweinestall – die einen nachvollziehen lassen können, warum Vesaas zu Lebzeiten als ewiger Anwärter auf den Literaturnobelpreis galt.[1] Doch auch wenn man Vesaas Inselidyll nicht bedenkenlos trauen kann – diesen Roman bedenkenlos zur Hand nehmen, kann man auf jeden Fall.

Tarjei Vesaas: Der Keim. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Mit einem Nachwort von Michael Kumpfmüller

Guggolz, 238 Seiten

Preis: 24,00 Euro


[1] Bekommen hat er ihn letztlich nie.

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