Ein Tanz in Ketten

R. F. Kuang: Babel; Cover: Harper Collins

Wie der Titel des Romans bereits vermuten lässt, beschäftigt sich Babel: Or the Necessity of Violence: An Arcane History of the Oxford Translators’ Revolution mit der zwingenden Macht von Sprache. Rebecca F. Kuang denkt die Geschichte des britischen Imperiums neu: In ihrem Großbritannien des 19. Jahrhunderts dreht sich alles um die Übersetzung. Der Staat zieht seine Macht aus der Magie, die den zwischen Sprachen verloren gehenden Sinn einfängt. Trotz einiger gestalterischer Schwächen gelingt es Kuang, eine eingehende Betrachtung der Zusammenhänge von Sprache, Kolonialismus und der Notwendigkeit des Widerstands anzustellen.

von JOAH KULMS

Heimlich, das ist das deutsche Wort für das Geheime, das Versteckte, das Verstohlene. Clandestine, will man es mit diesem Gedanken ins Englische übertragen. Aber, so erklärt Professor Playfair seinen neuen Studierenden, heimlich besitzt noch weitere Implikationen. Heimat. Sich heimisch, sicher, geborgen fühlen. In einen Silberbarren graviert und laut ausgesprochen fängt das Metall diese in der Übersetzung verloren gegangene Bedeutung ein und setzt sie in eine real spürbare Aura der Geborgenheit um. „Silver-working“ – das ist das magische System, welches das britische Imperium vorantreibt: das seine Webstühle bewegt, seine Züge fahren lässt und seine Gewehrkugeln hart und treffsicher macht. Zentrum dieses sprachlichen Weltnetzes ist das „Royal Institute of Translation“ der Oxford University, kurz: der Turm von Babel. Als neuer Teilhabender dieses exklusiven akademischen Zirkels muss sich Robin Swift – geboren in den Armenvierteln Chinas, verwaist und unter englische Vormundschaft gestellt – nicht nur mit den komplexen Zusammenhängen der Linguistik auseinandersetzen, sondern auch mit Rassismus, Ausbeutung und immer drängender mit der Frage, welchen Preis wirklicher Widerstand hat.

Sprache, Rassismus und alles dazwischen

Rebecca F. Kuangs Babel: Or the Necessity of Violence: An Arcane History of the Oxford Translators’ Revolution ist ein Roman, der sich viel vornimmt. Er taucht in die Entwicklung von Sprachen ein, verdeutlicht linguistische Zusammenhänge und setzt sich mit der komplexen Frage der Übersetzung auseinander. Er behandelt britischen Imperialismus, Unterdrückung und alltäglichen Rassismus. Er beschäftigt sich mit der Mittäterschaft der akademischen Welt: Finanzierung aus kolonialer Ausbeutung und Forschung aus kapitalistischen Interessen – und doch, ein Sehnsuchtsort. Und er stellt die Frage, wie die Veränderung eines tyrannischen Systems möglich ist; was es dafür aufzugeben gilt und welche Gewalt in Kauf genommen werden muss. All diese Themen sind weder historisch noch literarisch zu trennen. Sie weben sich im Roman zu einem dichten Teppich aus Zusammenhängen, Verweisen und Kausalitäten, angereichert von einem umfangreichen Apparat aus Fußnoten, der linguistische und historische und zuweilen auch auf das Narrativ bezogene Informationen bietet.

Hauptakteur*innen des Romans sind eine Gruppe junger Studierender, die als Außenseiter aus dem weiß und männlich geprägten Oxford herausstechen. Doch wie sie herausfinden müssen, geht es ihren britischen Unterstützern nicht darum, ihnen neue Möglichkeiten zu schaffen. Ihre (sprachlichen) Wurzeln in China, Indien und Haiti sind vor allem anderen Kapital. Der Turm von Babel hat sich nicht der Verständigung oder kulturellen Wertschätzung verschrieben – es zählt allein die Macht, die sich aus der Sprachkenntnis ziehen lässt. Somit schleicht sich das Aufbegehren ein. Erst beginnt es allmählich im Kontakt mit einer rebellischen Studierendenorganisation, stets begleitet von der Angst um den Verlust der eigenen Privilegien. Wenn der Raum sich öffnet und die vier Studierenden über den abgegrenzten Horizont ihres Studiums hinaus in die politischen Beziehungen des Imperiums blicken, wird Blut fließen.
Somit lässt sich Babel als der Versuch einer geopolitischen Studie lesen. Zugleich ist es der Entwicklungsroman seines Protagonisten Robin Swift, der nach seiner kulturellen Identität sucht und sich zwischen seinen Zweifeln und der Erfüllung hin und hergerissen fühlt, die er das erste Mal in Oxford findet. Und ebenso wird der Text zu einem flammenden Plädoyer dafür, dass Neues nur in der Zerstörung des Bestehenden entstehen kann. Über weite Strecken gelingt es dem Roman, diese Balance zu halten. Die Autorin verfolgt jedes ihrer Themen schonungslos bis in die Tiefe, deckt Gewalt und Machtbeziehungen in allen ihren Facetten auf. Babel ist stark, wo es wütend wird. Wo es gegen die Fesseln der Ungerechtigkeit anschreit, seine Charaktere nicht einfach entkommen lässt. Die Art, wie ihre Fehler nicht entschuldigt werden, die Umstände ihnen keine Absolution erteilen, fühlt sich für einen (quasi) historischen Roman erfrischend an.

Thematischer Reichtum und gestalterische Abstriche

Zugleich rutscht der Text immer wieder ins Schablonenhafte ab. Über seinen verzwickten thematischen Verstrickungen scheint die Autorin manchmal die Ausarbeitung ihrer Charaktere zu vergessen. Im getakteten Alltag aus akademischen Studien und Kampf gegen den Kolonialismus bleibt den Figuren wenig Platz zum Atmen. Das ist schade; aufgrund dieses hölzernen Anstrichs büßt der Text an einigen Stellen an emotionaler Schlagkraft ein. Ähnlich verhält es sich mit dem magischen Sprach-System des „silver-working“. Die Grundidee ist bestechend, illustriert als Rahmensetzung ganz plastisch einen Leitgedanken des Romans. Leider bleibt es bei dieser Funktion als Gimmick. Silbermagie ersetzt nahtlos das historische Gefüge der Industrialisierung. Wieso haben sich keine anderen Länder trotz vorhandener Ressourcen diese Magie zunutze gemacht? Was hat es für gesellschaftliche Folgen, wenn die gesamte Macht des Landes mit einem Mal in den Händen von Sprachwissenschaftler*innen liegt? Wieso überhaupt Silber als Magieleiter? Stattdessen bleibt es bei frustrierten Arbeiter*innen, die sich statt mechanischer Webstühle nun eben über magisches Silber ärgern, das sie in die Armut treibt. Es gibt manch andere Stellen, an denen der Boden der Glaubwürdigkeit dünn wird – seien es ein unterirdischer Geheimgang zum Widerstandslager oder zwei Studierende mit Gewehren, die mit einem Schlag ein ganzes Land lahmlegen. Trotzdem ist Babel unbedingt lesenswert. Sei es aufgrund der Intelligenz, mit der Kuang die Verflechtungen von Sprache und Imperialismus beschreibt, des Aufrufs zum Mut, zu seinem eigenen Wert zu stehen – oder wegen der Bedeutung, die der Rolle des Übersetzens zugestanden wird.
„So the translator needs to be translator, literary critic, and poet all at once– he must read the original well enough to understand all the machinery at play, to convey its meaning with as much accuracy as possible, then rearrange the translated meaning into an aesthetically pleasing structure in the target language that, by his judgment, matches the original. The poet runs untrammelled across the meadow. The translator dances in shackles.“

Rebecca F. Kuang:  Babel: Or the Necessity of Violence: An Arcane History of the Oxford Translators’ Revolution

Harper Collins Publ. USA, 560 Seiten

Preis: 26,00 Euro

ISBN: 978-0-06-302142-6

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