Wie viel verrät der erste Satz über das Ende eines Romans? So ziemlich nichts, denkt man wahrscheinlich beim Anblick des Einstiegs in Welch Grausame Gnade von Chloe Gong – doch trotzdem ist der Ausgang der Handlung zu erahnen. Denn im Wissen, dass es sich bei dem Roman um eine Neubearbeitung von Shakespeares Romeo und Julia handelt, tendieren wir zu der Annahme, das Ende der Geschichte bereits zu kennen. Aber nicht immer müssen unsere Erwartungen erfüllt werden. Manchmal hat der erste Satz rückwirkend betrachtet viel mehr Informationsgehalt als erwartet, manchmal ist der Handlungsverlauf noch überraschender und manchmal ist die Neubearbeitung eines kanonischen Werks wirklich neu.
von MAJA GRÜTER
„Im strahlenden Shanghai erwacht ein Monster.“
Langsam findet Asien immer mehr Repräsentanz in der heutigen, populären Unterhaltungsliteratur. Vor zehn Jahren waren in Mainstream-Romanen sogar asiatische Nebencharakter eine Seltenheit. Betritt man jetzt eine Buchhandlung, stehen mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit einige Werke in den Regalen, die von asiatischer Kultur inspiriert sind oder gänzlich im asiatischen Raum spielen. Seien es K-Pop geprägte Liebesromane, eine an Mulan angelehnte Geschichte oder Werke, die sich die Chinesische Revolution zum Handlungszeitraum nehmen – Asien ist für die Literatur nicht mehr nur ein grauer Fleck auf der Landkarte. Der Kontinent hat Geschichte und kann Geschichten erzählen, auch neuerzählen.
Shanghai strahlt in Zeiten der Krise
Welch Grausame Gnade setzt mitten im politischen Konflikt von 1926 in Shanghai ein: Eine der wichtigsten Parteien, die nationale Volkspartei, spaltet sich in ein linkes und ein rechtes Lager. Mitglieder befürchten nun, dass die Sowjets mithilfe der kommunistischen Partei versuchen werden, sie von innen heraus zu stürzen. Misstrauen und Rivalität stehen an oberster Tagesordnung, denn wem soll man trauen, wenn nicht bekannt ist, wer auf welcher Seite der Politik steht?
Dieser Gedanke setzt sich auch im Untergrund fort, wo die beiden Gangs, die „Scarlets“ und die „White Flowers“, regieren und sich stetig im Machtkampf befinden. Besonders innerhalb der „Scarlet Gang“ kommt es zu Spannungen, denn hier wird mit dem Verrat aus den eigenen Reihen an die Rivalen gerechnet. Im Zentrum dieser Blutfehde stehen die verfeindeten Juliette Cai und Roma Montagow, deren Namen offensichtlich stark an die Protagonisten bei Shakespeare angelehnt sind. Allerdings bleibt es bei seichten Anlehnungen an die Original-Geschichte, die alle weniger romantisch geprägt sind. Denn bei Welch Grausame Gnade handelt es sich in erster Linie nicht um eine Liebesgeschichte. Viel eher geht es um die Bekämpfung des besagten Monsters und eines tödlichen Virus – andernfalls wäre die Stadt zerstört und es gäbe niemanden mehr zu regieren. Beiden Bedrohungen lassen sich dabei metaphorisch im Kontext des politischen Konflikts lesen: das Monster in seiner Oktopus-Gestalt als Symbol des Kommunismus und das Virus als sich verbreitende Geistesströmung.
„So wilde Freude nimmt ein wildes Ende,
Und stirbt im höchsten Sieg, wie Feu’r und Pulver
Im Kusse sich verzehrt.“
Dieses bekannte Zitat aus Romeo und Julia befindet sich unmittelbar vor dem Prolog von Welch Grausame Gnade. Schon auf der ersten Seite des Romans wird die Geschichte der Protagonisten somit vorausgedeutet. Was erst im Laufe der Handlung offenbart wird, ist, welche Vorerfahrungen Juliette und Roma miteinander teilen. Mit ihrem ersten Aufeinandertreffen wird die Verachtung, die sie füreinander empfinden, deutlich. Anders als bei Shakespeare lernen sich die Protagonisten aber bereits vier Jahre zuvor kennen und verlieben sich damals ineinander. Ein Verrat trennt die beiden und entzündet den Hass, mit dem sie sich nun begegnen. Nur für die Rettung der Stadt verbünden sie sich gezwungenermaßen: Feuer und Schießpulver kommen immer wieder zusammen, doch die Abneigung löst sich wegen des Misstrauens nur langsam auf. Von einer „wilden Freude“ kann man hier nicht sprechen, dafür aber von einem „wilden Ende“ mit Kämpfen, Geiselnahmen und Explosionen – und einem Sieg über das Monster, wie es zumindest scheint. Ein tragisches Ende gibt es jedoch nicht, die gegenseitige Vernichtung von Feuer und Schießpulver bleibt aus. Ob es, wie im Anfang von Welch Grausame Gnade angekündigt, dazu kommt, dass von Roma und Juliette nur Asche übrig bleibt, müssen die Leser*innen im Folgeband Welch Grausames Ende herausfinden.
Chloe Gong: Welch Grausame Gnade. Aus dem Englischen von Carolin Moser
Lago Verlag, 464 Seiten
Preis: 22,00 Euro
ISBN: 978-3-95761-220-5