Der Absturz des Schwebenden

Dževad Karahasan: Einübung ins Schweben, Cover: Suhrkamp

Alles andere als leichte Kost: Dževad Karahasans Werk Einübung ins Schweben erörtert existenzielle Fragen vor der Kulisse des belagerten Sarajevos während des Bosnienkrieges. Der Roman des jüngst verstorbenen bosnischen Schriftstellers liefert Denkanstöße, kann sprachlich jedoch nicht auf ganzer Linie überzeugen.

von NICOLAS UHRBERG

Vor wenigen Wochen wurde die Nachricht vom Tode Dževad Karahasans bekannt. Der 1953 im damals jugoslawischen Bosnien und Herzegowina geborene Karahasan – der promovierter Literatur- und Theaterwissenschaftler war – hinterlässt mit Einübung ins Schweben eine Auseinandersetzung mit der ihn prägenden Stadt Sarajevo. Ähnlich wie Sarajevo mit unterschiedlichen Ereignissen der Weltgeschichte in Verbindung gebracht wird (Attentat 1914 und damit Anlass für den Ersten Weltkrieg, Olympische Winterspiele 1984, Belagerung von 1992 bis 1995), fällt eine literarische Einordnung von Karahasans Veröffentlichung schwer. Im Klappentext wird es denn auch als „eine ethische und existentielle Grenzerfahrung vom literarischen Chronist Sarajevos” angekündigt, was doch einige aufschlussreiche Erkenntnisse aus der Lektüre erhoffen lässt.

Alles für den Rausch

Erzählt wird der Roman aus der Perspektive von Rajko, einem bosnischen Schriftsteller. Die Handlung setzt im Jahr 1992 im belagerten Sarajevo ein und begleitet Rajko durch seine Heimatstadt. Gesellschaft leistet ihm neben seiner Familie, darunter seine Mutter Ljuba und seine Tante Gina, der befreundete walisische Mythenforscher und Philosoph Peter Hurd, der spontan in Sarajevo bleibt, um die Stadt während der Belagerung zu erleben.

Auffallend ist, dass keine der Figuren wirkliche Sympathie zu erwecken vermag. Insbesondere der sich in umfangreichen philosophischen Ausführungen ergehende Peter Hurd nicht. In einer der vielen Auseinandersetzungen zwischen Rajko und Peter will der Erzähler „aufspringen, aufschreien, meinem Lehrer und Freund an die Gurgel gehen und kräftig zudrücken, bis ich ihn erwürgt hätte“. Und man kann es ihm wahrlich nicht verdenken. Wenn Peter beispielsweise nach der Meldung von Gefallenen ausruft: „Der Tod wächst! Das ist gut, das ist gut“. Oder wenn er schwärmt: „Erst hier und jetzt habe ich wahre Freiheit kennengelernt. Das ist wunderbar – der größte Grad der Freiheit offenbart sich mir in einer belagerten Stadt.“ Leider bleibt es denn auch nicht bei philosophischen Schwärmereien, sondern Peter gibt sich immer mehr dem Rausch von Drogen und anderen Ekstasen hin. Auch auf Kosten der gerade erst volljährigen Sanja, die von ihm unter Drogeneinfluss gesetzt wird. Äußerst befremdlich werden die Erläuterungen Peters, wenn er seine brachialen Versuche einer Initiation der jungen Sanja in die Erwachsenenwelt verteidigt: „Daher ist ein reifer, wohlwollender und besorgter Mann ein wahres Glück für einen Menschen, dessen Tochter an der Schwelle zur Reife steht“. Anschließend flüchtet sich das Mädchen in einer ergreifenden Szene tief verstört in Onkel Rajkos Arme.

Erfahrungen im Schweben

Dennoch ist sicherlich etwas Wahres dran, wenn Peter beschreibt, wie Extremsituationen Menschen verändern: „Die ständige und unmittelbare Existenz des Todes befreit den Menschen von jeder Verpflichtung, jeder Rücksicht, von allem, was ihn hemmen könnte“. Er möchte ins tiefste Innere seines Selbst vordringen und vermutet, dass durch die humanitäre Notlage verborgene Triebe im Menschen hervorgerufen werden.

Der Wunsch nach Entgrenzung wird schließlich auch vom im Titel bereits mystisch angekündigten Schweben aufgegriffen. So sieht Peter alles Mögliche im Schweben über Sarajevo – Rauch, die Seelen der Ermordeten, Vögel. Angekurbelt wird diese Wahrnehmung sicherlich auch von den Drogen, die er exzessiv zu konsumieren beginnt und die ihn in ein tiefes Loch stürzen. Auf der Suche nach Entgrenzung verliert er sich zunehmend selbst und bleibt im Schweben irgendwo in einer Art Zwischenwelt aus Träumen, Gedanken, Obsessionen.

Schwerfällige Textgestaltung

Sprachlich stellt sich der Text oft überaus sperrig dar, wobei das auch an der Übersetzung aus dem Bosnischen liegen mag. Da wären verwirrende Zeitkonstruktionen („Sobald ich sie etwa zwei Stunden zuvor erblickt hatte, begann ich mich zu fragen, woher ich sie kennen könnte […] aber es war mir nicht gelungen, mich zu erinnern“) und verschachtelte Sätze („So oder so ähnlich ist es auch mit denen, die wir lieben und die wir in unserem Erleben der Rolle anpassen konnten, die wir ihnen zugedacht haben“). Dževad Karahasans Einübung ins Schweben bietet Einblicke in eine Stadt im Ausnahmezustand und das Verhalten der Menschen in ihr. Für philosophisch oder soziologisch Interessierte ist es damit durchaus lesenswert. Aber literarisch krankt es an der Unnahbarkeit seiner Figuren, die unablässig existenzielle Fragen zu erörtern scheinen und dabei eher wie eine Projektionsfläche für philosophische Fragen denn als Menschen wirken. Vielleicht passt aber gerade das zum Bild des Schwebens.  

Dževad Karahasan: Einübung ins Schweben

Suhrkamp, 304 Seiten

Preis: 25,00 Euro

ISBN: 978-3518431221

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