Markus Zusaks Die Bücherdiebin öffnet mit der Erinnerung an die eigene Sterblichkeit, die Sterblichkeit des Lesers. Die Relevanz des Individuums wird auf unmittelbarste Weise bekräftigt. Diese Signifikanz eines jeden Charakters für sich und ihre Relevanz im Bezug zu einander ist der Fokuspunkt der Geschichte. Ihr Erzähler ist konzipiert, um die Bedeutung des unscheinbaren Einzelnen darzustellen, wie kein anderer es könnte.
von ANDREAS MARTIUS
„Zuerst die Farben. Dann die Menschen. So sehe ich die Welt normalerweise“
Mit diesem Vorsatz blickt der Tod auf die Geschichte der Bücherdiebin, auf die Zeit, in der sie erzählt wird und auf seine eigene Position. Die des Beobachters, des Überlieferers – sowohl der Geschichte selbst, als auch derer, die sie nicht überlebt haben. Dabei wird der Leser nicht ausgelassen. Freundlich erinnert der Tod uns „Ihr werdet sterben.“. Eine simple Aussage. Eine simple Sache, den Erzähler der Bücherdiebin als lediglich fiktionale Personifikation des Konzepts Tod von sich zu schieben. Es ist weit weniger einfach, sich der Gewalt zu erwehren, die der Tod als der Erzähler einer Geschichte über sie hat und der Gravitas seiner Aussage: „[Er] sah die Bücherdiebin drei Mal.“.
Die Farben
Während der Tod sich uns vorstellt, macht er deutlich: Er liebt die Farben. Sie sind seine Auszeit, eine Ruhepause in der endlosen Monotonie seiner Arbeit. Er nimmt sie wahr, wie Menschen es nie könnten – in „eine[r] Milliarde Schattierungen“, widergespiegelt im Himmel einer jeden Tageszeit.
Als er die Bücherdiebin zum ersten Mal sieht, ist der Himmel weiß, der Tag kalt und der Bruder der Bücherdiebin tot. Der Tod teilt uns mit, er meide die Hinterbliebenen normalerweise, die Farben würden ihm über ihren Anblick, ihren Schmerz und ihre Trauer hinweg helfen. Doch dieses Mal heißt ihn die Neugier der Bücherdiebin zu folgen. Damit kommen wir zu der zweiten Farbe. Schwarz. Die Schattierung, die die Welt annimmt, wenn sie erkennt, dass eine weitere Seele von ihr gegangen ist. Der Tod verweilt nur kurz in den Trümmern des Flugzeugs und erblickt die Bücherdiebin ebenso lange. Wir erfahren, dass er nicht alle Farben mag. Schwarz hat er „so oft gesehen, dass [er sich] nicht mehr […] erinnern will.“
Die letzte Farbe ist Rot. Rot wie der Himmel über dem zerbombten deutschen Städtchen. Rot wie das Blut, das durch die Straßen fließt und in dem die Bücherdiebin kniet. Rot wie der Hintergrund einer Fahne, Weiß wie der Kreis darauf und Schwarz wie das Hakenkreuz darin. Der Tod selbst erzählt uns die Geschichte eines Mädchens, dass mit ihrem Bruder zusammen von ihrer Familie getrennt werden sollte, ihren Bruder auf der Reise verlor und alleine in einer fremden Stadt im Deutschland des Zweiten Weltkriegs aufwuchs. Schon auf den ersten Seiten wird klar, warum gerade der Tod ihr als Erzähler folgen kann.
Die Menschen
Der Tod folgt aber keiner übergreifenden Handlung, keinem groß angelegtem Plot. Er beobachtet Charaktere, Einzelschicksale, macht immer wieder Anmerkungen über ihre Vergangenheiten, auf die er zufällig einen Blick werfen konnte, während er mit einer anderen Seele entschwebte. Die Bücherdiebin ist eine Harmonie aus Interaktion, aus gegenseitigem Anstoßen und Veränderung. Die Menschen sind die Geschichte und nicht nur Akteure in ihr. Die ersten Worte des Buches positionieren den Erzähler außerhalb der Geschichte, machen ihn zu einem Beobachter. Sie lassen ihn gleichzeitig bestimmen, wie die Geschichte erzählt wird, wie das Setting, die Atmosphäre – die Farben, auf denen die Handlung ruht dem Leser gegenüber kommuniziert werden. Seine Position als der Tod bringt ihn aber in unmittelbare, sowohl physische als auch emotionale Nähe der Figuren und verleiht ihm einen hohen Grad an Kontrolle über sie. Dass er diese Kontrolle allerdings nicht wahrnimmt und sich zudem über seinen eigenen Vorsatz, die Farben, die Nuancen des Großen-Ganzen, den Menschen vorzuziehen, hinwegsetzt, steigert das Interesse des Lesers an den Charakteren ungemein. Die Farben treten in den Hintergrund, die Handlung nötigt die Charaktere nicht zur Aktion, sie sind der Fokuspunkt der Beobachtung, die der Erzähler macht und die er dem Leser in dieser Geschichte mitteilen will.
Markus Zusak: Die Bücherdiebin (aus dem Englischen von Alexandra Ernst)
Blanvalet, 608 Seiten
Preis: 12 Euro
ISBN: 978-3-442-37395-6