Gemeinsam einsam

Mieko Kawakami: All die Liebenden der Nacht, Cover: DuMont

Einsamkeit ist nicht nur ein Problem alter Leute, deren Bekannten- und Freundeskreis langsam ausstirbt. In All die Liebenden der Nacht verdeutlicht Mieko Kawakami das anhand einer Lektorin Mitte 30, die jenseits ihrer Arbeit sozial völlig isoliert ist. Kawakami verwebt die Themen Einsamkeit, Frausein und Alkoholismus zu einem Roman, der an vielen Stellen überzeugt, es jedoch nicht durchgehend schafft, die Tiefe der angesprochenen Themen zufriedenstellend auszuleuchten.

von CAROLIN KAISER

In ihrem Heimatland Japan ist Mieko Kawakami schon seit Mitte der 2000er eine gefragte Autorin. Den dortigen Literaturbetrieb aufgemischt hat die Frau aus Osaka mit Texten, die Weiblichkeit und Frausein mit einer kritischen Offenheit diskutierten wie sie in der männlich dominierten Literaturszene Japans bis dahin eine Rarität war. Es hat ein wenig gedauert, aber mittlerweile werden Kawakamis Werke dank Übersetzungen in immer mehr Sprachen einem größeren Publikum zugänglich. Und das mit Erfolg: Die englischsprachige Übersetzung von Kawakamis Roman Heaven (jap. Original: 2009) schaffte es letztes Jahr auf die Shortlist des renommierten International Booker Prize[1]. Ähnlich wie Heaven, ist auch der im Juni diesen Jahres erstmals auf Deutsch erschienene Roman All die Liebenden der Nacht kein aktuelles Werk: Die japanische Veröffentlichung war bereits 2011. Eine weitere Parallele zu Heaven, in dem es um einen von seinen Mitschülern gemobbten Jugendlichen geht, ist das zentrale Thema von All die Liebenden der Nacht: soziale Isolation.

Meine Arbeit, mein Bier und ich

Fuyuko ist selbstständige Lektorin, Mitte 30 – und das war es auch schon. Hobbies hat sie keine, ebenso wenig spezielle Interessen. Ihr einziger regelmäßiger sozialer Kontakt ist Hijiri, die bei einem großen Verlag dafür zuständig ist, Aufträge an externe Lektor:innen zu vergeben und zu betreuen. Außer Arbeiten und Schlafen gibt es nur eine weitere Tätigkeit in Fuyukos Leben: Alkoholkonsum. Fuyukos einsiedlerischer Lebensstil beginnt an ihr zu nagen. Ihr Alkoholproblem verschlimmert sich. Als Ausweg aus ihrer in Zügen selbst gewählten, in Zügen aber auch zwanghaft-unfreiwilligen Einsamkeit – die Grenze zwischen Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit ist bei der introvertierten Fuyuko fließend – beschließt sie, sich an einer Volkshochschule für eine Vorlesungsreihe anzumelden, egal zu welchem Thema. Doch ihre Abhängigkeit steht ihr im Weg. Anstatt sich für etwas anzumelden, übergibt sich Fuyuko auf der Toilette der Volkshochschule. Beim zweiten Anlauf döst sie im seligen Suff auf einer Bank im Anmeldebereich ein und wird um ihre Handtasche erleichtert. Doch auch wenn es Fuyuko nicht schafft, sich für irgendetwas anzumelden, so schafft sie es durch ihre beiden Eskapaden in der VHS doch, einen neuen sozialen Kontakt zu knüpfen: den vornamenlosen Mitsutsuka, ein älterer Herr um die 50, der als Physiklehrer an einer Oberschule[2] arbeitet. Zwischen den beiden entwickelt sich keine Freundschaft, aber doch eine Bekanntschaft und wie der Romantitel All die Liebenden der Nacht bereits andeutet, ist diese Bekanntschaft trotz Altersunterschied und einer gewissen höflichen Distanziertheit – die beiden bleiben den ganzen Roman über beim „Sie“ – nicht frei von Gefühlen romantischer und sexueller Natur – zumindest auf Seiten Fuyukos.

Ein Gesellschaftsroman im Zeitalter der Einsamkeit

Einsamkeit und soziale Isolation – das sind die zentralen Themen des Romans. Kawakami greift damit ein Problem auf, dass im europäisch-nordamerikanischen Raum spätestens seit der Corona-Pandemie an Aufmerksamkeit gewonnen hat, in der rapide alternden japanischen Gesellschaft aber schon länger diskutiert wird. Dreh- und Angelpunkt dieser Diskussion sind in Japan sogenannte hikikomori – Menschen, die sich für mindestens sechs Monate (meist jedoch deutlich länger) komplett in ihre eigenen vier Wände zurückziehen und mit der Außenwelt so gut wie keinen Kontakt führen. Klassischerweise gehen hikkikomori keiner Arbeit nach, wohnen bei ihren Eltern und sind laut einem gängigen Stereotyp männlich. Der Begriff des hikikomori fällt zwar an keiner Stelle, aber Kawakami weist mit ihrem Roman auf eben jene Menschen hin, die dem vorherrschenden Bild nicht ganz entsprechen, jedoch – wie Fuyuko – Teil dieser gegenwärtigen Einsamkeitspandemie sind. All die Liebenden der Nacht ist ein Roman, der ein Bild der Vielfältigkeit von Einsamkeit zu zeichnen sucht – vor allen Dingen der Einsamkeit von Frauen Mitte 30. Denn die Ewig-Alleinstehende, menschenscheue Fuyuko ist nicht die einzige Romanfigur dieser demografischen Gruppe, der tiefergehende soziale Bindungen fehlen. So wirkt Hijiri, Fuyukos Ansprechperson beim Verlag, trotz ihrer extrovertierten Natur, wie eine Person, die einen – bewussten oder unbewussten – Drang danach hat, Leute von sich zu entfremden. Männer nimmt sie generell nicht für voll. Als „Partner“ in – von ihrer Seite aus – extrem unverbindlichen romantischen und sexuellen Verhältnissen sind sie ihr gut genug, als mehr nimmt sie sie aber nicht wahr. Trotz ihres regelmäßig und lautstark propagierten „Feminismus“, haben es Frauen bei Hijiri auch nicht leichter. Die einzigen Frauen, die sie respektiert sind solche, die – wie Fuyuko – richtige Arbeitstiere sind und zumindest von außen betrachtet von einer Aura der Asexualität umhüllt sind.

Ein guter, aber nicht überragender Roman

Als Roman über weibliche Einsamkeit ist All die Liebenden der Nacht streckenweise durchaus erhellend, kann sich aber gewissen Klischees und Stereotypen nicht verweigern. Die Hausfrau und Mutter – im Roman präsent durch eine alte Schulfreundin Fuyukos –, die trotz Ehemann, Kinder und Affäre einsam ist, ist sicherlich nicht der innovativste Kommentar zu den isolierenden Effekten traditioneller Geschlechterrollen. Dass die Figur nur einmal kurz auftaucht, ihre Lage beklagt und dann nie wieder erwähnt wird, bestärkt diesen Eindruck der Oberflächlichkeit. Auch, dass Fuyukos Ausweg aus der Einsamkeit über weite Teile des Romans einzig die Form einer möglichen romantischen Beziehung einnimmt, ist ein literarisch ausgetrampelter Pfad. Zu Gute halten muss man dem Roman jedoch, dass er – ohne zu viel vorwegzunehmen – manche dieser Klischee letzten Endes doch zu brechen oder zu modifizieren weiß. Gerade die zusätzliche thematische Dimension durch Fuyukos Alkoholismus schafft es zudem, Einsamkeit nicht nur als Auslöser, sondern auch als Symptom anderer Probleme auszuleuchten. Ist Fuyuko Alkoholikerin, weil sie einsam ist? Ist sie einsam, weil sie Alkoholikerin ist? Beides? Das Erörtern dieser Frage überlässt Kawakami den Lesenden. All die Liebenden der Nacht ist unterm Strich ein guter, sicherlich aber kein überragender Roman. Wer sich jedoch für literarische Darstellungen von Einsamkeit interessiert, dem sei die Lektüre durchaus ans Herz gelegt.

Mieko Kawakami: All die Liebenden der Nacht. Aus dem Japanischen von Katja Busson

DuMont, 260 Seiten

Preis: 24,00 Euro

ISBN: 978-3-8321-8284-7

Mieko Kawakami: Heaven. Aus dem Japanischen von Katja Busson

DuMont, 192 Seiten

Preis: 22,00 Euro

ISBN: 978-3-8321-8374-5


[1] Die gleichnamige deutsche Übersetzung von Katja Busson ist 2021 bei DuMont erschienen.

[2] Die japanische Oberschule ist vergleichbar mit der gymnasialen Oberstufe in Deutschland.

Kommentar verfassen