„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie dagegen ist unglücklich auf ihre besondere Art.“

Lew Tolstoi (Fotografie Sergei Michailowitsch Prokudin-Gorski, 1908)

Mit diesen Worten beginnt Anna Karenina, einer der berühmtesten Ehebruchromane der Literatur neben Madame Bovary und Effi Briest. Wenn der Name Leo Tolstoi fällt, denkt man in erster Linie wahrscheinlich anden oben erwähnten Roman oder Krieg und Frieden. Die beiden Bücher spiegeln die russisch- aristokratische Gesellschaft wider, in der er gelebt hat. Tolstoi zeichnete sich vor allem durch sein soziales Engagement und seine religiösen und politischen Ansichten aus. Anlässlich seines 195. Geburtstags blicken wir auf das Leben von einem der wichtigsten Vertreter der russischen Literatur zurück.

von VANESSA MUSZARSKY

Wir schreiben das Jahr 1828. Graf Lev Nikolaevič Tolstoj kommt am 9. September auf dem Landgut Jasnaja Poljana in Russland zur Welt. Seine Mutter stirbt zwei Jahre nach seiner Geburt, sein Vater stirbt im Jahr 1837. Daraufhin wird er von seiner Tante erzogen. Zunächst beginnt Tolstoi im Jahr 1844 orientalischen Sprachen und Jura zu studieren. 1847 bricht er sein Studium ab und kehrt an seinen Heimatort zurück, um sich um seine Leibeigenen zu kümmern. Zwischen 1851 und 1854 leistet er seinen Militärdienst und wurde dabei Augenzeuge des Kaukasuskriegs und des Krimkriegs – Ereignisse die zur Schlüsselerfahrung für das Leben des Schriftstellers werden. Er bricht mit der Tradition hochrangiger Militärkarrieren seiner männlichen Vorfahren und verlässt nach Ende des Krimkriegs die Armee, desillusioniert von der brutalen Wirklichkeit des Krieges, die insbesondere in der dritten Sewastopoler Erzählung vom August 1855 zum Ausdruck kommt. Es folgen ruhigere Jahre, 1862 heiratet er Sofia Andrejewna Behrs, mit der er 13 Kinder bekommt. In den folgenden 16 Jahren verfasst er die Romane Anna Karenina und Krieg und Frieden. Neben dem Schreiben war Tolstoi besonders politisch und religiös engagiert. Seine Ablehnung von Krieg, Sklaverei und dem Talionsprinzip[1] ist untrennbar verbunden mit seiner Kritik an Militär, Recht und Staat sowie am Besitzdenken in Bezug auf Landeigentum. Mit seinen Überzeugungen macht sich Tolstoi jedoch im russischen Zarenreich nicht beliebt, weshalb er ab 1882 polizeilich überwacht wird. In seiner zweiten Lebenshälfte beschäftigt er sich zunehmend mit Sinnfragen und interessierte sich vor allem für religiöse Fragestellungen und bildet die Grundlage einer Universalreligion. Diese besagt, dass das ganze Gesetz Gottes, das aus dem Bewusstsein seiner Lage entspringt, auf dem Gehorsam gegen den Willen Gottes und in der Liebe zum Nächsten und dem Dienste an ihm beruht, sowie die Anerkennung der Gleichheit aller Menschen und die Grundgesetze des Lebens. Diese Ideen weichen oft von der Lehrmeinung der orthodoxen Kirche in Russland ab, deshalb wird Tolstoi nach der Veröffentlichung seines Romans Die Auferstehung 1901 exkommuniziert. Am 20. November 1910 stirbt Tolstoi an der Bahnstation Astapowo, nachdem er sich während der Zugfahrt mit einer Lungenentzündung infiziert hatte.

Tolstoi, die Bauern und die Landreformen

„Wird der Reiche wahrhaft barmherzig, so hört er bald auf, reich zu sein“,

sagt Tolstoi. Sein Engagement für die Landreformen und die Verbesserung der Lebensumstände der Bauern und ihrer Familien lag ihm besonders am Herzen. Wie bereits erwähnt, brach er 1844 sein Studium ab und kehrte zu seinem Heimatort zurück. Er wollte seinen 350 Bauern durch Landreformen ein besseres Leben verschaffen. Von 1860 bis 1861 unternimmt er Reisen nach Westeuropa, um seine Ideen zu bewerben. Unterdessen leitet er konkrete Schritte zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Leibeigenen auf Jasnaja Poljana in die Wege. So gründet er ab 1859 – inspiriert von den pädagogischen Schriften Jean-Jacques Rousseaus – im Verlauf der nächsten drei Jahre insgesamt 13 Schulen für Bauernkinder, und ist entsprechend hoch erfreut über die Abschaffung des Leibeigenschaftssystems in Russland dank des Emanzipationsedikts von 1861 durch Zar Alexander II. Von Januar 1862 bis Januar 1863 gibt Tolstoi eine pädagogische Zeitschrift mit dem Titel „Jasnaja Poljana“ in zwölf Ausgaben heraus, mit der er seine freiheitlichen Ansätze einer Bildung ohne Selektionsdruck und Zwang verbreitet. Im Ausland erhält er viel Anerkennung für seine Bemühungen. Allerdings war er kein Verfechter der Diktatur des Proletariats. Seine Sympathie für das einfache Leben der Bauern drückt sich in einem seiner bekanntesten Zitate aus:

„Besitz verlockt zur Sünde, und Anhäufung von Reichtümern entsittlicht den Menschen. Nur die einfache Arbeit gibt Glück und Zufriedenheit.“

Eines Frage des Glaubens

Ab den 1870 Jahren beschäftigt sich Tolstoi intensiv mit seinem Glauben. Er schreibt und veröffentlicht eine hohe Anzahl an religiösen oder sich mit Religion befassenden Texten. Das Evangelium vermittelt Tolstois Bibelarbeit (ab 1879) und Evangelien-Interpretation. Zu seinen weiteren religiösen Schriften gehören Kritik der dogmatischen Theologie, Die christliche Lehre und Katechetische Schriften für Erwachsene und Kinder. Einige seiner Bücher werden verboten, wie beispielsweise Meine Beichte, ein Werk in dem er die Abwendung von seinem bisherigen Leben und jeglichem weltlichen Besitz thematisiert, um so näher an Gott zu sein. In Worin besteht mein Glaube, beschreibt er seinen persönlichen Entwicklungsgang, die Beeinflussung seines Glaubens durch kirchliche Lehrer und setzt sich kritisch mit dem christlichen Glauben und der Bibel auseinander. Er beschreibt etwa Christi Lehre von den Gläubigen als unerreichbares Ideal, der als Wahn von den Ungläubigen aufgefasst wird, diskutiert den Gegensatz der christlichen und jüdischen Sittenlehre oder die Ausführbarkeit der christlichen Gebote.

Doch für die meisten Menschen bleibt Tolstoi vor allem eines: Ein brillanter Autor, der einen großen Einfluss auf die Entwicklung des historischen Romans in Russland hatte. Seine literarischen Werke haben sich auch jetzt, 195 Jahre nach seiner Geburt, weltweit etabliert. Sei es durch Theaterstücke, Musicals oder Verfilmungen Krieg und Frieden (1956) mit Audrey Hepburn und Henry Fonda oder Anna Karenina (2012) mit Keira Knightley und Jude Law.

Empfehlung:

Leo Tolstoi: Anna Karenina. Aus dem Russischen von Gisela Drohla

Insel Verlag: 1204 Seiten

Preis: 16,00 Euro

ISBN:  978-3-458-36226-5


[1] Das Talionsprinzip strebt eine Gleichartigkeit zwischen dem Schaden des Opfers und der Bestrafung des Täters an. Das biblische „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ ist ein Beispiel hierfür.

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