Wenn parasoziale Beziehungen Psychotherapien ersetzen

Rin Usami: Idol in Flammen, Cover: Kiepenheuer & Witsch

Die japanische High-School Schülerin Akari hat es aufgegeben, ihre psychischen Probleme therapieren zu lassen. Stattdessen stürzt sie sich in die Welt der japanischen Popindustrie und setzt ihre psychische und körperliche Gesundheit aufs Spiel. Rin Usami macht in ihrem Roman Idol in Flammen gleich auf mehrere Gesellschaftsprobleme aufmerksam: die toxischen Aspekte der Fankultur, die Machenschaften der Musikindustrie und die dunkle Seite von Social Media. Das alles auf nur 125 Seiten.

von VANESSA MUSZARSKY

Trigger Warnung: In der folgenden Rezension geht es unter anderem um Depressionen und Suizidgedanken. Bei manchen Menschen können diese Themen negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall ist. Weitere Informationen und Hilfsangebote findest du am Ende der Rezension.

Auf den ersten Blick scheint Akari ein gewöhnliches Leben zu führen: Sie steht kurz vor ihrem Schulabschluss, ihr Vater wurde beruflich ins Ausland versetzt und sie wohnt mit ihrer Mutter und älteren Schwester zusammen. Akaris Großmutter ist derweil schwerkrank und liegt im Krankenhaus. Ihre Freizeit verbringt Akari auf ihrem Blog, dem sie dem Idol[1] Masaki gewidmet hat. Er ist Mitglied der japanischen Popband Mazamaza.

Akaris Kinderzimmer besteht zum Großteil aus Fanartikeln. Signierte Bilder und Poster von Masaki hängen an den Wänden. Die Regale sind überfüllt mit DVDs, CDs, Zeitschriften und Broschüren. Bei einigen Fantreffen und Konzerten war Akari auch schon. Ein typisches Teenager-Fangirl könnte man meinen. Lediglich eine Phase ihres Lebens, die irgendwann zu Ende geht. Doch dem ist nicht so.

Schon sehr früh hat Akari bemerkt, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Sie ist apathisch und ihr Körper fühlt sich schwer an. Auf den Rat ihrer Schulpsychologin hat sie sich untersuchen lassen und zwei Diagnosen erhalten. Was genau diagnostiziert wurde, erfährt man im Roman jedoch nicht. Akari wurden weitere Medikamente und Arzttermine verschrieben. Doch statt ihre Termine in der Klinik wahrzunehmen, hat sie sich ihrem Idol gewidmet. Diese Pseudo-Beziehung zwischen ihr und Masaki ist ihre Weise, sich im Leben zurechtzufinden, ein Bewältigungsmechanismus gewissermaßen.

„Ganz alltägliche Aufgaben, die andere mit links bewältigen, fallen mir schwer, und ich mache mir ständig Sorgen um die Spuren, die meine Fehler hinterlassen. Aber eins steht fest. Masakis Fan zu sein ist das Zentrum meines Lebens, die eine Konstante. Mein Idol ist meine Körpermitte, meine Wirbelsäule.“

Überkonsum und Social Media 

Fans spielen eine zentrale Rolle für Erfolg und Karriere in der Musikbranche. Die Fans sind das Kapital eines Idols. Sie sind diejenigen, die die Alben und Konzerttickets kaufen, sie bestimmen die Relevanz und die Beliebtheit eines Idols, sie sind diejenigen die Schweiß, Blut, Tränen und vor allem Geld in ihren Lieblings-Musiker oder Musikerin investieren. Doch natürlich sind nicht alle Fans gleich, wie Akari klarstellt: 

„Manche Fans bejahen religiös alles, was ihr Idol tut, andere meinen, ein echter Fan müsse auch Grenzen ziehen. Es gibt Fans, die in ihr Idol verliebt sind, aber kein Interesse an seiner Arbeit als Künstler haben, und Fans die sich zwar keine Beziehung wünschen, aber trotzdem aktiv auf Posts reagieren. Dann gibt es die, die sich nur für die Musik interessieren und denen Skandale egal sind, und die aufs Geldanlegen fürs eigene Idol fixiert sind, wobei anderen der Austausch in der Fangemeinde am wichtigsten ist.“ 

Für Akari bedeutet Fan sein vor allem eins, sehr viel Geld auszugeben. Sie ist zum Konsumopfer der kapitalistischen Musikbrachen geworden. Nebenbei arbeitet sie als Kellnerin in einem Restaurant. Ihr gesamtes Gehalt gibt sie für Fanartikel, Konzertkarten und Wahlscheine für Beliebtheitswahlen aus. Wahrscheinlich würde sie ewig so weiter machen, doch da macht ihr ein Shitstorm auf Social Media einen Strich durch die Rechnung. Masaki soll einen weiblichen Fan angegriffen haben. Innerhalb weniger Tage steht das Leben des Idols in Flammen. Auf Social Media wird über ihn hergezogen, er verliert rasant an Popularität. Seine Karriere hängt am seidenen Faden. 

Eine Pseudobeziehung übers Smartphone 

„Fan zu sein ist meine Überlebensstrategie“ 

Parasoziale Beziehungen sind in unserer Zeit nichts Außergewöhnliches. Vor allem in Ländern wie Südkorea und Japan sind diese Art von Beziehungen ein verbreitetes Phänomen. Egal ob mit realen Menschen, wie K-Pop- oder J-Pop-Idols, oder fiktiven Figuren aus Animes, Mangas oder Videospielen. Rin Usami macht in ihrem Roman deutlich, dass solche Beziehungen eine toxische Richtung einschlagen können, wie in Akaris Fall. Die Schülerin kennt die persönlichen Daten, Hobbies und den Karriereverlauf des Sängers. Alles dank Internet und Social Media. Auf ihrem Blog dokumentiert sie täglich sein Leben. Der Sänger wiederum weiß höchstwahrscheinlich nicht einmal, dass Akari überhaupt existiert. Die Beziehung der beiden ist völlig einseitig. Als Masakis Karriere in die Brüche geht, beginnt Akaris Untergang. Für sie ist er das Zentrum ihres Lebens, für das sie letztendlich ihre physische und psychische Gesundheit aufs Spiel setzt. 

„Ernten, was man sät. Was man tut, fällt auf einen selbst zurück. Ich habe meinen Körper geschunden, bis nur noch Knochen übrig waren. Dass ich mich für Masaki aufgeopfert habe, ist meine Saat. Ich wollte mein Leben lang nichts weiter als ein Fan sein. Aber jetzt, nachdem ich gestorben bin, schaffe ich es nicht einmal, meine Knochen selbst aufzusammeln.“ 

Viele Menschen erhoffen sich vor allem zwei Sachen durch parasoziale Beziehungen – und zwar die Erfüllung von psychischen Bedürfnissen und Eskapismus[2]. Menschen können durch Social Media unterhalten werden, etwas lernen, sich von der realen Welt ablenken oder soziale Interaktionen erhalten. Vor allem letzteres ist besonders relevant. Wer kennt es nicht: Man schaut sich die Instagram-Story seines Lieblingsinfluencers oder -influencerin an. Hat Influencerin X ein neues Comedy-Video online gestellt? Die Band Y hat eine neues Musikvideo auf YouTube veröffentlicht. Der Sänger A hat auf Twitter veröffentlicht, dass er mit der Schauspielerin B zusammen ist. Dadurch, dass man seine Lieblingspromis täglich auf diversen Online-Plattformen sieht und sich oft stundenlang Inhalte von ihnen anschaut, entwickelt man eine parasoziale Beziehung. Man glaubt diese Personen zu kennen und fühlt sich mit ihnen verbunden. Obwohl parasoziale Beziehungen keine wahren Beziehungen sind, können sie für manche bedeutsam und erfüllend sein. Doch was sagt das über unsere Gesellschaft aus? Wahrscheinlich nichts Positives.

Es stellt sich die Frage, ob das Schicksal der Protagonistin eine andere Richtung eingeschlagen hätte, wenn sie weiterhin in ärztlicher Behandlung geblieben wäre und sie Medikamente genommen hätte, wie dies früher bei ihr der Fall war. Durch die Vernachlässigung ihrer psychischen Gesundheit hat sie sich, wie ihr erst viel zu spät bewusst wird, keinen Gefallen getan. Der Roman hinterlässt letztendlich wenig Hoffnung und ein paar Fragen. Was passiert mit Akari? Wie geht es mit dem Sänger Masaki weiter? Ist es Wert seine mentale und körperliche Gesundheit zu zerstören, um für ein paar Stunden in einer Scheinwelt glücklich zu sein? Nein, ganz klar, nein. Unsere Gesundheit sollten wir ernst nehmen, denn sie ist zu wichtig, um auf die leichte Schulter genommen zu werden. Natürlich ist es nicht immer leicht über Themen wie psychische Erkrankungen oder Therapien zu sprechen. Wenn der Roman eines klarstellt, dann das: Je länger man vor seinen Problemen davonläuft, desto größer und schlimmer werden sie, bis man droht, unter ihnen zusammenzubrechen. 

Rin Usami: Idol in Flammen. Aus dem Japanischen übersetzt von Luise Steggewentz 

Kiepenheuer & Witsch, 125 Seiten 

Preis: 18,00 Euro 

ISBN: 978-3-462-00302-4 


[1] Bei einem Idol handelt es sich im Ost-Asiatischen Raum um einen Pop-Sänger oder -Sängerin, der bzw. die alleine oder als Bandmitglied auftritt. 

[2] Zerstreuung suchendes Verhalten, Rückzug ins Private oder in die Natur oder das Imaginieren einer anderen Welt mit dem Zweck, die Beschäftigung mit der (unangenehmen) Realität zu vermeiden.

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