„Vom Fortgehen und Zurückkommen“

Raoul Schrott: Inventur des Sommers. Über das Abwesende,
Cover: Carl Hanser Verlag

In Inventur des Sommers. Über das Abwesende versucht Raoul Schrott sich dem Verschwundenen, nicht mehr Sichtbaren und in den Zwischenräumen verloren gegangenen literarisch anzunähern. Seine Gedichte und Essays mäandern mal in poetischen Reflexionen, kreisen mal um sich selbst. Am Ende bleibt die Frage, wie viel es über etwas, das nicht da ist, wirklich zu sagen gibt.

von JOAH KULMS

Raoul Schrott scheint sich selten mit kleinen oder einfachen Themen zufriedenzugeben. Diesmal ist es zumindest nicht das Leben, das Universum und der ganze Rest, die er in seinem neuen Werk Inventur des Sommers. Über das Abwesende aufarbeiten will. Doch über alles Absente und seinen Einfluss auf unser Leben sowohl historisch als auch in Anbindung an moderne Krisen nachzudenken, ist eine nicht unbedingt weniger anspruchsvolle Aufgabe. Gerahmt von einem „Inventar der Zwischenräume“, das er den Lesenden sowohl zu Beginn als auch zum Ende des Bandes als Definitionswerkzeug an die Hand gibt, besteht der Großteil des Textes aus Gedichten und essayistischen Einwürfen. In diesem wortwörtlichen Zwischenraum des Buches scheint das Verschwinden nicht nur thematisch Einzug gewonnen zu haben. Großschreibung hat sich ebenso verflüchtigt wie eine einheitliche Setzung von Reim, Syntax oder Interpunktion. Teilweise entwickeln Form und Inhalt in dieser gegenseitigen Verstärkung Schlagkraft: etwa, wenn Schrott den Bericht eines Opfers des Genozids an den Rohingya in Myanmar wiedergibt, die Sprache in ihrer Zerfetztheit und Lückenhaftigkeit die Grausamkeit des Massakers in jeder Silbe transportiert. An manch anderen Stellen fällt es schwerer, aus den Satzschlangen einen Sinn des An- oder Abwesenden herauszulesen. Das mag in der Natur der Sache liegen, die alles und nichts gleichsam umfasst, hat auf Dauer aber die Tendenz, anstrengend zu werden.

„Über das Abwesende XII“

Ebenso wie sich Raoul Schrotts Schreiben in einem Zwischenraum befindet und versucht, das einzufangen, was nur noch in einem Abdruck oder der Erinnerung vorhanden ist, so ist auch die Leseerfahrung schwierig fassbar. Schrott hat ein Händchen für Sprache, das muss man ihm lassen. Seine Formulierungen sind sowohl poetisch als auch akademisch. Sie verbinden in ihren  Zusammensetzungen das Abstrakte mit dem Sichtbaren, Quantenphysik mit dem Geräusch eines fallenden Baumes. In seinen eigenen Worten: „Poesie vermag solche Reduktionen wieder rückgängig zu machen, indem sie Worte […] so setzt, dass ihre zwiefachen Bedeutungen wieder gleichzeitig wahrnehmbar werden“. Da kann man ihm auch schon mal verzeihen, dass er sich teilweise allzu sehr in sein gehobenes Vokabular und seine Schachtelsätze verliebt.
Thematisch kommt er der Abwesenheit in Bildern wie dem Besuch des leeren Sockels einer verschwundenen Prometheus-Statue, dem Anblick von Armeetransportern auf dem Weg zur ukrainischen Front und der einsamen Nacht in einem Autobahn-Restaurant auf die Spur. Manche dieser Eindrücke, Momentaufnahmen und affektiven Historie-Berichte entwickeln einen Sog, entfalten Melancholie und Nachdenklichkeit.
„ob das dunkel vor dem licht begann
ist nicht zu sagen – nur dass eins auf das andere verweist
und sie verbindet in dem paradoxon
dass vermisstes bestand hat: man beständiges vermisst“
So changieren die Texte zwischen Hoffnung und Verzweiflung, malen Bilder in den Staub und wirken wie die Übersetzung des flüchtigen Eindrucks eines Lichteinfalls.
Vielleicht ist es dem Thema geschuldet, das in einer Annäherung an das Abwesende im Grunde leerer Raum umkreist wird, doch wenn die Anzahl der Gedichte mit dem Titel „Über das Abwesende“ den zweistelligen Bereich erreicht, beginnt man sich doch zu fragen, was Schrott einem hier eigentlich mitteilen will. So hehr sein Anliegen auch sein mag, kann man sich doch dem zeitweilig auftauchenden Eindruck der Belanglosigkeit nicht erwehren. Ähnlich verhält es sich mit den essayistischen Einwürfen. Gedanken über „zu allem geschriebenen und gesagten gehört auch ungedachtes […]. was solcherart abwesend bleibt, stellt bloss den zwangsläufig vom denken geworfenen schatten dar“ entwerfen interessante Bilder, doch auch die Wissensfetzen über antike Philosophie, Anbetung altertümlicher Götter und besonders alle etymologischen Darbietungen über Leichen beginnen irgendwann auf der Stelle zu treten. Vielleicht erzwingt aber auch gerade das eine langsamere und bewusstere Lesart.

„Die erste Muse II“

Schwierig wird es hingegen, über seine Darstellungen von Weiblichkeit hinwegzusehen. Musen durchziehen dieses Werk, sind quasi omnipräsent. Als Begierde nach dem Absenten, nie wirklich Existenten scheinen sie für Schrott exemplarisch für das Abwesende zu stehen; und eine ähnliche Rolle scheinen wohl auch Frauen in seinem Weltbild und Schaffen einzunehmen. Wenn er seine Frauenfiguren als Objekte seiner oder anderer Männer Begierde inszeniert und sich über ihre Schönheit als poetische und lebensweltliche Inspiration auslässt, dann löst das weniger poetische Reflexionen als eher erhobene Augenbrauen über seinen scheinbar abwesenden Sinn für Zeitgeist aus. Schließlich schreibt er Zeilen an die unbekannte Schönheit vom Nebentisch, die er „mit ins zukünftige gerichteten grüssen“ ungefragt in ihrer Tasche hinterlässt (deren Inhalt er ebenso untersucht wie im Gedicht aufzählt). Es bleibt unklar, was er genau damit bezwecken will – bewusste Provokation oder ein vermeintliches Augenzwinkern für alle, die noch nach dem Motto „boys will be boys“ leben? Spätestens, wenn er – kaum versteckt unter Vogel- und Naturkunde-Metaphern – über seine Versuche schreibt, das Wesen der Frauen zu ergründen und dabei „doch halten sie mich lebendig und stimmen gar poetisch / auf der jagd nach ihnen in kurzen hosen und mit schmetterlingsnetz“ von sich gibt, haben wir vollends den Raum der gehobenen Auseinandersetzung verlassen und uns gemütlich in den Welterklärungen der nächstgelegenen Stammkneipe eingerichtet. In diesem Fall hätten Schrott die selbst proklamierten Zwischenräume doch besser getan.

Raoul Schrott: Inventur des Sommers. Über das Abwesende

Hanser, 176 Seiten

Preis: 24,00 Euro

ISBN: 978-3-446-27633-8

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